Geißel unserer Zeit

  • Prof. Dr. Birgit Reime: „Die perinatale Sterblichkeit ist so niedrig wie nie zuvor und dennoch erleben Frauen Angst und Stress.“

  • Stress scheint ein Phänomen unserer Zeit zu sein – doch war unser Leben in den industrialisierten Ländern nie so bequem wie heute: Wir verfügen über schnelle und sichere Transportmittel, können unsere Nahrung im Supermarkt kaufen statt sie mühsam selbst anzubauen, unsere Behausungen sind warm und behaglich. Körperliche Schwerstarbeit ist verschwunden oder durch die Hilfe von Maschinen wesentlich erleichtert worden. Infektionskrankheiten und hohe Säuglingssterblichkeit, die vor hundert Jahren noch zu einer niedrigen Lebenserwartung geführt haben, sind dank der enormen Verbesserungen der Lebensbedingungen, der Ernährung und der daraus resultierenden geringeren Vulnerabilität der Bevölkerung weitgehend unter Kontrolle. Die Verbesserung der medizinischen Versorgung hat ihren Teil dazu getan. Doch erkranken wir heute an den so genannten „Zivilisationserkrankungen", von denen viele mit Stress in Verbindung gebracht werden.

    Das Kinderkriegen war ebenfalls noch nie so sicher wie heute. Idealerweise bekommen wohlgenährte, gesunde Frauen, die einen Geburtsvorbereitungskurs bei einer Hebamme besucht haben und die (in Deutschland) im Mutterschutz sind, ihr Kind zu Hause oder in der Klinik, jeweils unter dem Beistand von Fachpersonal. Die perinatale Sterblichkeit ist so niedrig wie nie zuvor und dennoch erleben Frauen Angst und Stress. Gründe dafür sind zum Beispiel die Angst davor, dass das Kind eine Behinderung haben oder nicht lebensfähig sein könnte. In einer Gesellschaft, in der sich Mütter von behinderten Kindern für deren Existenz sogar rechtfertigen müssen, stellt sich mancher Frau die Frage, ob ein behindertes Kind gewollt ist oder nicht. Wie eine Schweizer Arbeitsgruppe in diesem Heft schildert, erzeugt die Verdachtsdiagnose einer kindlichen Behinderung Angst und Stress. In Studien zeigte sich, dass Frauen, die sich nach Abklärung des Befunds für das behinderte Kind entscheiden, weniger Stress erleben als die Frauen, die sich zur Abtreibung entschließen.

    Schaut man sich den Arbeitsalltag einer Hebamme an, so ist das Erleben von Stress angesichts der Belastungen nicht erstaunlich. Kontinuierlicher Personalabbau in Kliniken, lange Dienstzeiten, Schicht- und Nachtdienste, Sonn- und Feiertagsdienste, (unbezahlte) Überstunden und ein im Verhältnis zur Verantwortung, die mit dieser Tätigkeit verbunden ist, geringes Gehalt sind nur einige der Bürden, denen sich eine angestellte Hebamme gegenübersieht. Dazu kommen im Falle der Freiberuflichkeit Rufbereitschaft und ungeregelte Arbeitszeiten. Studien zufolge hat sich an diesen Bedingungen seit Jahrzehnten nicht viel geändert. Wenn ich momentan streikende Gesundheitsberufe im Fernsehen sehe, frage ich mich schon, warum Hebammen noch so geduldig sind und nicht auch stärker auf ihre Belastungen aufmerksam machen.