Gratwanderung Genuss

  • Eines Tages sprach die Mutter zum Rotkäppchen: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben.“ Mit dem heutigen Wissen über die Toxizität von Alkohol muss man sich fragen, ob es im Märchen der Brüder Grimm nicht eine versteckte Form von Erbschleicherei darstellt, die kranke Großmutter mit Wein zu versorgen. Europa kann auf eine lange Tradition des Alkoholgenusses zurückblicken. Die Produktion von alkoholischen Getränken ist ein Hauptindustriezweig in Europa, 750.000 Menschen arbeiten heute in der Herstellung, noch mehr in allen dazugehörigen Geschäftsbereichen. Auch unsere Kultur ist vom Alkohol geprägt: Filme, Musik und Literatur sind gefüllt mit Lobpreisungen. „Ein Trinkgeschirr, sobald es leer, macht keine rechte Freude mehr“, befand schon Wilhelm Busch.

    Anfänglich hat Alkohol eine anregende Wirkung auf das Gehirn und weckt euphorisierende Gefühle. Im Anschluss kommt es zu einer beruhigenden Wirkung, die bis zum Abbau von Hemmungen und Urteilsfähigkeit führt. Jährlich sterben in Deutschland 40.000 Menschen an den Folgen schädlichen Alkoholkonsums. Das reicht von Unfällen bis hin zu chronischen Erkrankungen. 10.000 Neugeborene jährlich tragen die Last einer intrauterinen Intoxikation. Und dennoch gibt es wissenschaftliche Studien, die bestrebt sind zu belegen, wie gesunderhaltend regelmäßiger Alkoholkonsum sei. Wäre dem so, gäbe es nicht so viele Gesetze und Restriktionen, die den Genuss in bestimmten Situationen verbieten oder zumindest stark einschränken.

    Der vergnügliche Rausch täuscht über die schwerwiegenden Folgen regelmäßigen Konsums hinweg. Frauen haben sich in diesem Fall als Meisterinnen des Verdeckens erwiesen, weshalb weibliches Suchtverhalten auch als „stille“ oder „verdeckte“ Sucht bezeichnet wird. 84 Prozent der Schwangeren in Deutschland trinken während der gesamten Schwangerschaft keinen Alkohol. Bei den anderen sind es vor allem die besser betuchten Frauen, die die schädigende Wirkung des Alkohols unterschätzen. Ich erinnere mich an einen schwedischen Forscher, der sagte: „Den Schwangeren muss klargemacht werden, dass man sein Kind an einem Abend von Gymnasium auf die Hauptschule heruntertrinken kann.“ In Anbetracht der Zahlen braucht es offensichtlich so deutliche Ansagen für Schwangere, um die Interpretationsspielräume eng zu halten. Doch sind es vor allem Väter, die zu viel trinken. In Deutschland wachsen 2,6 Millionen Kinder mit einem oder zwei alkoholkranken Elternteilen auf. Als Suchtkind aufgewachsen zu sein, prägt für das ganze Leben und stellt einen unsichtbaren Risikofaktor für die eigene Elternschaft dar.

    Ich kann mich dem Aufruf der kanadischen Hebamme Qumaluk anschließen: „Wir müssen aufpassen, dass unsere Ungeborenen gesund bleiben. Sie sind unsere künftigen Chefs, unsere künftigen Bürgermeister, unsere künftigen Ärzte und Krankenschwestern. Ich bitte Sie, keinen Alkohol und keine Drogen während der Schwangerschaft zu konsumieren.“