Primum non nocere!

  • Dr. Birgit Reime: „Warum wollen Frauen, die beides erlebt haben, eher eine Vaginalgeburt als eine Sectio?“

  • Vor allem, richte keinen Schaden an", ist der Leitsatz ärztlichen Handelns. Ob sich Ärzte darauf berufen können, wenn sie an Frauen – ohne jegliche medizinische Indikation – einen Kaiserschnitt durchführen? Trotz gegenteiliger Evidenz wird der Kaiserschnitt von vielen Befürwortern als risikoärmer als die Vaginalgeburt hingestellt. Die Frage, ob ein Kaiserschnitt in einer akuten Situation bei einer individuellen Frau indiziert ist, kann niemand so gut beurteilen wie die KlinikerInnen, die speziell diese Frau fachlich betreuen. Die Frage, ob Sectiones auf Bevölkerungsebene mit mehr oder weniger Risiken für Frauen und Kinder einhergehen als Vaginalgeburten, ist keine klinische, sondern eine epidemiologische Frage und kann am kompetentesten von EpidemiologInnen beantwortet werden. Kliniker haben nur die Informationen, die Epidemiologen ihnen liefern und fraglich ist, ob sie diese richtig interpretieren können.

    Wenn zum Beispiel Prof. Dr. Karl-Heinz Broer, Leiter einer Privatklinik speziell für Wunschkaiserschnitte, in diesem Heft die Risiken des Kaiserschnitts als gleich hoch wie bei der Vaginalgeburt darstellt und sich dabei auf Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) beruft, drängt sich der Eindruck auf, als hätten viele Gynäkologen in Deutschland noch so manche Fortbildung in Epidemiologie zu absolvieren, bevor sie überhaupt in der Lage sind, Frauen korrekt aufzuklären. Isabelle Azoulay führt in diesem Heft das Selbstbestimmungsrecht der Frau als Grund an, eine Sectio wählen zu dürfen. Niemand darf den Frauen fremde Werte aufzwingen, wenn es um den eigenen Körper geht, so die Soziologin. Indem sie den Kaiserschnitt als schmerzfreie Alternative zur Vaginalgeburt darstellt, geht die Autorin, deren Courage ich bewundere, der Propaganda der Frauenärzte in diesem Punkt auf den Leim. Warum wollen dann die meisten Frauen, die beides erlebt haben, eher eine Vaginalgeburt als eine Sectio wiederholen?

    Wer kann gegen ein Konzept der Wahlfreiheit sein, kritisiert Professor Michael Klein die Rhetorik der Debatte – und sei es die Wahl eines gefährlicheren Geburtsmodus.

    Ich kann mir Indikationen vorstellen, die den Kaiserschnitt auf Wunsch begründen, beispielsweise sexuelle Gewalt in der Biografie einer Frau. Sheila und Jenny Kitzinger haben betont, wie wichtig das Gefühl der Kontrolle, in diesem Falle die Vermeidung von Vaginalschmerz, für traumatisierte Frauen ist. Dies ist in der deutschen Debatte viel zu wenig thematisiert worden.

    Wir sollten die Risiken der Sectio, trotz ihrer Ernsthaftigkeit, auch im Verhältnis zu anderen Risiken sehen: Circa jede fünfte Hebamme raucht und gefährdet damit – trotz besseren Wissens – ihre und anderer Menschen Gesundheit. Sie hat dafür ihre Gründe, die offensichtlich die Gefahren überwiegen. Sollte Rauchen verboten werden?