Rituelles Opfer

  • Dr. Angelica Ensel: „Nur wenn wir bereit sind, unser eigenes Tun immer wieder zu hinterfragen, werden wir klüger.“

  • Dammschutz, Dammriss, Episiotomie – ein äußerst sensibles Gebiet der Hebammenarbeit. Wie durch ein Brennglas gewinnen wir tiefe Einblicke in die Kulturgeschichte des weiblichen Körpers, die wechselvolle Berufsgeschichte der Hebammen sowie gesellschaftliche Machtverhältnisse, wenn wir die unterschiedlichen Praktiken und Lehrmeinungen durch die verschiedenen Zeiten anschauen.

    Auf Seiten der Hebamme ist da der Kult um den Dammschutz, der als wichtiges Ritual bis heute gelehrt und zelebriert wird. Die Hebamme als machtvolle Wächterin, die die intimste Region des weiblichen Körpers vor Verletzungen schützt – wohlgemerkt nicht die Intimität der Frau! Diese ist hier der Hebamme überantwortet. Nur wenn die Gebärende sich ihr total ausliefert und alle Blicke und Berührungen zulässt, kann sie diesen Schutz empfangen, der in erster Linie darin besteht, den Prozess zu kontrollieren. Auf der anderen Seite das Schneiden, Zerschneiden. Im Zeitalter der programmierten Geburt in den 1970er Jahren und Anfang der 80er Jahre war der Dammschnitt eine Art Initiationsritual – notwendig zum Prozess des Mutterwerdens gehörend. Ein rituelles Opfer, dessen Symbolik besagt: Mutterwerden heißt, an der intimsten Stelle verletzt und zerschnitten zu werden. Auf dem Höhepunkt ihrer weiblichen Kraft – stark und schutzbedürftig zugleich – wird die Frau in ihrer Weiblichkeit verletzt, gezeichnet. Psychoanalytisch gesehen eine scharfe Dominanzgeste männlicher Macht, eine rituelle Kastration der Frau, deren machtvolle Schöpferinnenkraft eine Kränkung der Männlichkeit darstellt.

    Meine Hebammenausbildung Ende der 70er Jahre erlebte ich in diesem Anachronismus: Im Unterricht wurden wir im „heiligen" Ritual des Dammschutzes unterwiesen. An der Zahl der „Dammschütze" wurde unsere Kompetenz gemessen, jeder Dammschutz eine weitere Trophäe auf dem Weg zur Hebamme. Im Kreißsaalalltag dann das rituelle Schneiden. Und ohne dass wir es verhindern konnten, wurden wir zu Mittäterinnen. Denn irgendwann mussten auch wir Hand anlegen und lernen, wie man eine „Epi" schneidet. Den Widerstand überwinden, den richtigen Moment abwarten, ins gesunde Gewebe schneiden – das tut weh. Später versteckten mutige Hebammen manchmal die Schere oder ließen sie „aus Versehen" auf den Boden fallen.

    Heute ist Zurückhaltung angesagt: Lieber reißen lassen als schneiden, heißt die Devise – wobei noch immer zu viel geschnitten wird. Auch was den Dammschutz betrifft, gibt es schon lange nicht mehr die absolute Wahrheit. Zum Glück dürfen und müssen wir selbst denken. Und nur wenn wir bereit sind, wissenschaftliche Erkenntnisse und unser eigenes Tun immer wieder zu hinterfragen, werden wir klüger, was den uns anvertrauten Menschen hoffentlich nutzt. Was wir dabei ganz sicher nicht brauchen, sind Machtgesten.