Wechselnde Wege

Die immer neuen Wege zu  unterschiedlichen Häusern,  in die man zur Geburt  gerufen wird, verbinde ich besonders  intensiv mit der Hausgeburtshilfe:  Manchmal lange Fahrten in  entlegene Gegenden bei Wind und  Wetter oder auch zu Fuß zum Haus  um die Ecke oder schräg gegenüber.  Das Glücksgefühl, nach einer  Geburt im Morgengrauen durch  eine zauberhafte Landschaft zurück  nach Hause zu fahren – gedankenverloren, belebt und erfüllt,  vielleicht auch erschöpft. Und gerade dann empfänglich  für die Stimmungen der Landschaft oder der Stadt in ihren  eigenen Rhythmen, als wäre nicht soeben etwas Großartiges  geschehen. Oder die Spannung beim Losfahren, das Sammeln  von Kraft und Konzentration für das, was kommen wird.  Dann bei der Ankunft die Atmosphäre zu erspüren, wenn  sich die Tür öffnet und man als willkommener, erwarteter  Gast eintritt. 

Wie die meisten Einwohner dachte ich früher, meine  Geburtsstadt Hannover sei gesichtslos. Das änderte  sich, als ich anfing, Hausgeburten zu betreuen. Ich  lernte die Stadt und ihr Umland neu kennen, kam auch in  Stadtteile, in die es mich normalerweise nicht geführt hätte.  Beim Begleiten eines Abschnitts ihres Lebens – meist vom  Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende der Stillzeit –  manchmal drei, vier oder fünf Mal von neuem bei jedem  weiteren Kind, wurden mir die Wohnorte, die Behausungen  der Familien und die Wege dorthin vertraut und damit immer  mehr auch meine Stadt. Die Menschen, die ich besuche,  gewähren mir Eintritt in ihre Privatsphäre und zeigen mir in einer  besonders offenen und kreativen Situation viel von ihrem  Lebensentwurf und ihrer individuellen Art zu leben. Seit ich  Haushebamme wurde, stelle ich mir nicht mehr die Frage, ob  mir eine Frau „liegt“. Jede Familie öffnet mir erneut meinen  Blick für eine eigene Welt – manchmal eine, in der ich mich  gleich zu Hause fühle, manchmal eine fremdartige, die ich  verstehen lerne, weil ich weiß, dass wir die Herausforderung  der Geburt gemeinsam zu bestehen haben werden. Vieles  würde ich von diesen Menschen nie erfahren und begreifen,  wenn nicht ich zu ihnen, sondern sie zu mir gekommen  wären. All dies ist mir wertvoll als „Sicherheitsfaktor“ bei der  Geburt und ich frage mich, wie man ohne dieses gegenseitige  gewachsene Vertrauen, die Kenntnisse und die Vertrautheit,  eine fremde Frau im veränderten Zustand ihrer Wehen  verstehen kann – geschweige denn auf ihre ganz persönliche  Kraft vertrauen, gerade wenn es mal nicht so leicht geht. 

Im Vorüberfahren rufen mir diese vielfältigen Geburtshäuser  in den Straßen von Hannover und den umliegenden  Orten in Erinnerung, was ich einmal hinter ihren Fenstern  erlebt habe: Wenn ich für eine Zeitspanne von diesen Familien  eingeladen war und in einer der intimsten Situationen,  einen Höhepunkt ihrer Biografie miterlebt habe. Ein Nachklang  des Zaubers, der die glückliche Geburt umgibt, scheint  dabei auf – und weil es viele solcher Fenster in Hannover  gibt, ist mir meine Stadt heute ans Herz gewachsen – anders  als in jungen Jahren.