Zu Tode geschüttelt

  • Katja Baumgarten, Hebamme und langjährige Redakteurin der DHZ: »Man findet unzählige Urteile, wo Mütter oder Väter zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Hinter jedem Fall steckt eine Tragödie.«

  • Anfang 2014 wurde ich am Landgericht Dortmund auf das Schwurgerichtsverfahren gegen eine Mutter aufmerksam. Es begann parallel zum Prozess gegen eine Ärztin und Hebamme unter Leitung desselben Vorsitzenden Richters.

    Der siebenmonatige Nils war 2010 an Hirnblutungen nach einem Schädelbruch gestorben. Am Ende eines Mammutprozesses – nach 95 Verhandlungstagen in viereinhalb Jahren – war das Richterteam zweifelsfrei davon überzeugt, der Säugling sei keineswegs an den Folgen eines Unfalls gestorben, wie es die Mutter angegeben hatte, sondern sie selbst habe Nils zu Tode geschüttelt. Die Mutter hatte bis zum Schluss beteuert, ihr Sohn sei aus dem Elternbett gefallen, als sie den Raum kurz verlassen habe – sie habe Nils geliebt und nicht misshandelt.

    In einem offensiven Expert:innenstreit vertraten zahlreichen Gutachter:innen kontroverse Erklärungsansätze, einige hielten die Mutter für glaubhaft. Nicht nur die Verteidiger, auch die Staatsanwaltschaft hatten am Ende auf Freispruch plädiert. Dennoch lautete das Urteil »schuldig«: drei Jahre und vier Monate Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Im vergangenen Sommer wurde das Urteil vom Bundesgerichtshof bestätigt, Nils` Mutter muss als Verbrecherin ihre Haftstrafe antreten. Ihr zweites Kind wird an den Folgen mitzutragen haben.

    Kann es Familien helfen, wenn ein vermutlich hoffnungslos überfordertes Elternteil ins Gefängnis kommt, das in einem verzweifelten Affekt die Nerven verloren hat? Entfalten derartige Strafen abschreckende Wirkung für andere Eltern und werden Säuglinge so geschützt? Wird der Gesellschaft Genugtuung verschafft mit dem juristischen Blick auf das Familiendrama als Verbrechen?

    Man findet unzählige Urteile, wo Mütter oder Väter zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Hinter jedem Fall steckt eine Tragödie. Hilflose Eltern konnten der Wucht und der Energie ihres nicht zu beruhigenden, exzessiv schreienden Säuglings nicht standhalten. Sie fanden keinen Ausweg und machten sich an ihrem Kind schuldig. Mit dem selbst verursachten schweren Schaden oder gar Tod des eigenen Kindes weiterzuleben, wird für Eltern die schlimmste Strafe sein. Jedes Jahr werden in Deutschland schätzungsweise 100 bis 200 Säuglinge infolge eines Schütteltraumas stationär aufgenommen. 10 bis 30 % von ihnen sterben daran. Nur 10 bis 20 % überleben ohne bleibende Schäden.

    Frühzeitige, wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz der Kleinsten sind notwendig. Letztlich ist es ein Armutszeugnis der Gesellschaft, wenn es zu derartigen Überforderungen mit lebensbedrohlichen Folgen für Säuglinge kommt. Die Isolation in Kleinfamilien mag dazu beitragen, dass sich manchmal kein Weg aus der Eskalation findet. Niedrigschwellige Angebote, möglichst mit aufsuchender Beratung, wie Hebammen sie anbieten können, sind eine kostbare Möglichkeit der Prävention, damit es nicht zum Äußersten kommt. Die Eltern brauchen Strategien, um aus Tiefpunkten wieder zurückzufinden. Solidarität ist gefragt!

     

    Katja Baumgarten