Elternschule – Therapie oder Ideologie?
Am 22. April 2020, mitten im Corona-Lockdown, bekommen die Eltern in Deutschland wieder einmal »Elternschule«. Der WDR bringt den einschlägigen Kinofilm über die Arbeit der psychosomatischen Abteilung an der Kinderklinik Gelsenkirchen-Buer. Laut Werbung ein Muss für alle Eltern.
Dabei fasst der Film lediglich ein seit Jahrzehnten praktiziertes – und seit Jahrzehnten umstrittenes – Therapieprogramm zusammen:
... »nach der Verabschiedung schreit und kratzt das Kind wie toll. Es zieht sich in eine Ecke des Raums zurück und sucht Schutz an der Wand. Es nimmt keinerlei Kontakt mit seiner Umwelt, Umgebung auf und wehrt Zuwendung und Ablenkung durch andere Personen heftig ab.« (Stemmann & Stemmann 2002)
So zu lesen in einem Grundlagenwerk von Prof. Ernst August Stemmann, dem Erfinder des in dem Film gezeigten Behandlungsverfahrens. Er beschreibt damit, was passiert, wenn man ein Baby oder Kleinkind von seiner Mutter trennt und in einen eigenen Klinikraum bringt, in die sogenannte »Mäuseburg«.
Jetzt kann man die Reaktionen der Kinder in Nahaufnahmen verfolgen.
30 Minuten aushalten, bis Mama wiederkommt. Dann die Wartezeit langsam steigern, damit die Therapie wirkt.
Das »Trennungstrauma« durch Trennung überwinden
Angeblich sollen die kleinen Kinder durch die erzwungene Trennung ein »Trennungstrauma« überwinden, das sie sich in ihrem früheren Leben zugezogen hätten – etwa durch »vorzeitige Wehen der Mutter«, »Trennung nach einem Kaiserschnitt«, »Scheidung der Eltern«, »Umzug in einen anderen Ort«, »Verlust eines Tieres«, oder auch, weil ein Kleinkind seine Mutter einmal zufällig aus den Augen verloren hat. Als Beispiel führt Prof. Stemmann etwa an: »Eine Mutter geht mit ihrer kleinen Tochter in ein Kaufhaus, um für das Kind ein Kleidchen zu kaufen. Die Mutter geht suchend um die Kleiderständer herum. Plötzlich hört sie ihr Kind schreien, so wie sie es noch nie vernommen hat. Was ist geschehen? Das Kind hat seine Mutter aus den Augen verloren. Ein Gefühl des Verlassenseins hat es wie ein Schock getroffen. Vor lauter Angst hat es aufgeschrien. Es war gar nicht zu beruhigen. Am Tage darauf zeigen sich erste neurodermitische Hautveränderungen. Künftig lässt das Kind nicht mehr die Hand der Mutter los, wenn beide zusammen das Haus verlassen.« (Stemmann 2002, 40)
Dieses Trauma, so die VertreterInnen dieser Theorie, lasse sich nur auflösen, wenn man Kinder unter »starken Stress« setze. Nur so »können sie neue Verhaltensweisen, die der Gesundheit dienen, erwerben. Das Stresshormon Cortisol wandert in die Hirnzellen und löscht die dort nicht mehr erwünschten Programme für die krankheitserhaltenden Verhaltensweisen.« (Stemmann 2002, 187)
Deshalb müsse das Programm auch ohne Rücksicht auf Verschlimmerungen durchgeführt werden, »selbst unter dem Preis, dass (...) sich das Kind blutig kratzt oder dass eine akute Krankheit, zum Beispiel eine Angina, eine Bronchitis, ein Durchfall und anderes auftritt.« (Stemmann 2002, 147)
Ursprünglich wollten die MitarbeiterInnen besagter Kinderklinik mit dieser Therapie Allergien heilen. Wie das gehen soll, beschreiben Prof. Stemmann, Dietmar Langer und andere MitarbeiterInnen der Klinik in einer gemeinsamen Publikation so: Dadurch dass sich der Patient »der traumatischen Situation, die ihn hat krank werden lassen, stellt und sie aktiv verarbeitet«, käme die Allergie zur Ruhe. Komme der Betroffene danach in Kontakt mit einem Allergieauslöser, »so löst es über das Gehirn keine Abwehrreaktion und somit auch keine Beschwerden mehr aus.« (Stemmann, Lion, Starzmann & Langer 2004)
Heute behandelt die Klinik mit dem aus dieser Theorie abgeleiteten »Trennungstraining« auch Essstörungen, Schlafstörungen, Schreibabys und andere sogenannte »Regulationsstörungen« – beziehungsweise das, was dort darunter verstanden wird. Ja, mehr noch: Alle auf der psychosomatischen Abteilung besagter Klinik aufgenommenen Säuglinge und Kleinkinder werden dem beschriebenen Trennungstraining unterzogen.
Klingt seltsam? Verwirrt? Esoterisch? Unseriös? Zum Weinen? Ich finde: alles zusammen.
Im Folgenden will ich versuchen, das zusammenzufassen, was eine Gruppe von ÄrztInnen, PsychologInnen und anderen Fachpersonen (zu denen auch ich gehöre) zu den Hintergründen dieses Films zusammengetragen hat.
Erziehung bereitet auf den »Überlebenskampf« vor
»Für jeden einzelnen Menschen stellt sich die Frage: welchem Prinzip folge ich: dem Prinzip der Schwäche oder dem Prinzip der Stärke? Anders ausgedrückt: Kann ich allein überleben, bin ich autonom? (...) Stark wird man nicht durch Geschenke; stark wird man dadurch, dass man sich etwas erkämpft. Die eigene Autonomie muss man sich erkämpfen, nur dann ist sie unantastbar.« So beschreibt der heutige psychologische Leiter der Abteilung Langer das Ziel der kindlichen Entwicklung: Autonomie entsteht durch Kampf (Verein Allergie- und umweltkrankes Kind – AuK-Brief 2011).
Ich stelle diese Aussage des Hauptdarstellers des Films Elternschule bewusst an den Anfang meiner Ausführungen, denn ich finde bis heute keine bessere Beschreibung dieses Films als die: Hier schauen wir kleinen Kindern zu, wie sie in einen Kampf geführt werden, durch den sie sich angeblich ihre »Autonomie« erstreiten sollen.
Schauen wir uns den Film also noch einmal im Schnelldurchlauf an, von Kampfplatz zu Kampfplatz.
Den ersten Kampfplatz habe ich bereits beschrieben: die »Mäuseburg« – die Arena also, in der das »Trennungstraining« stattfindet. Hier sollen Kinder und ihre Mütter erleben, »dass man auch allein, als Einzelner, lebensfähig ist und dass Trennung voneinander keinesfalls Verlust bedeutet.« (Stemmann 1999, 198) Kurz: hier sollen die Kleinen sich Autonomie erkämpfen.
Das Stressimpfungstraining
Dann sind in dem Film in vielen Einstellungen kleine Kinder zu sehen, die sich auf einer Untersuchungsliege winden. Wir sind jetzt beim so genannten »Stressimpfungstraining«. Die Kleinen sollen durch dieses Therapiemodul gezielt mit Stress überflutet werden – nämlich, um besser mit Stress umgehen zu lernen.
Um die Kinder zu stressen, werden sie in der besagten Klinik vom leitenden Arzt körperlich untersucht. Und zwar »täglich – auch wenn das medizinisch gar nicht nötig wäre«. (Bonusmaterial, DVD zum Film »Elternschule«)
Der Arzt setzt für die Säuglinge und Kleinkinder also ärztliche Untersuchungen an, bei denen er gar keinen Befund erheben will! Er will auch keine Diagnose stellen. Er schaut sich die kleinen Körper vielmehr an, um sie unter Stress zu setzen. Die verzweifelt zappelnden Kinder werden dafür von der Krankenschwester auf die Liege gedrückt. Dann tastet der Arzt den Bauch ab. Dann »hört« der Arzt die Lungen ab. Nein, er hört dabei nicht viel, aber auch hier: das ist gar nicht der Sinn der Übung. Dann nimmt der Arzt seinen Metallspatel, drückt die Zunge durch, untersucht den Mund, dann den Hals. In einer Nahaufnahme in dem Film fährt ein Metallspaltel sieben Sekunden lang im Rachen eines kleinen Kindes herum. Ich frage mich, wie die FilmemacherInnen das ausgehalten haben. Vom Kind ganz zu schweigen.
Weil es darum geht, dem Kind Stress beizufügen, finden die Untersuchungen auch nicht im Patientenzimmer statt. Sondern im ärztlichen Untersuchungszimmer. »Weil es nochmal den Stress erhöht.«, so erklärt es der leitende Arzt Dr. Kurt-André Lion in dem Film, und ergänzt als Begründung:
»Patientenzimmer ist so´n Schutzraum, da kann ich mich zurückziehen, ne, das kenn ich schon mittlerweile seit den letzten drei Tagen, ne, und jetzt hier in diesem Raum [gemeint ist das Untersuchungszimmer, d. A.] heißt erst mal: Stressimpulse gehen nach oben. Oft genug haben dann die Kinder dann gleich die Krise. Maama, Mamaa...« (Dr. Lion im Film »Elternschule«)
Durch dieses tägliche »Training« soll laut Langer »eine deutliche Verbesserung der Stressbewältigungsstrategien des Kindes erreicht« werden (Website der Gelsenkirchener Kinderklinik vom 28.6.2009). Es scheint wieder das gleiche Motiv durch: Entwicklung soll durch Kampf erzwungen werden.
Schlaftraining in der dunklen Kammer
Und dann ist da die Szene, die manche Zuschauer besonders beelendet. Wieder ein regelrechter Kampfplatz, wie sich schnell zeigt. Der kleine Felix, von Krankheiten und Krankenhausaufenthalten gezeichnet (eine deutliche Narbe an seinem Rücken weist hin auf eine durchgemachte Herz-Thorax Operation), steht in seinem Nachtstrampler in seinem Gitterbett, in dem er durch den Krankenhausflur geschoben wird, auf eine offenstehende Kammer zu. Die Hände um die Gitterstäbe geklammert, blickt er ängstlich zu seiner Mutter, die neben dem Bett herläuft. Als das Gitterbett in die Kammer geschoben wird, beginnt er zu weinen. In diesem Raum wird er die Nacht verbringen. Seine Mutter, die mit den Tränen kämpft, entfernt sich, der Pfleger macht das Licht aus. Und dann die Türe zu. Der kleine Junge wird die nächsten Nächte, von einer Infrarotkamera überwacht, in diesem stockdunklen Raum verbringen – bis er gelernt hat, auch ohne die Hilfe seiner Mutter den Weg in den Schlaf zu finden.
So sieht an dieser Klinik das »Schlafverhaltenstraining« aus, ein weiteres »Modul« der in dem Film Elternschule gezeigten »multimodalen 3-Phasentherapie.
Felix kommt in dem Film aber auch noch an anderer Stelle vor, nämlich beim Modul »Esstraining«, das er wohl auch durchläuft. Hier soll er zusammen mit anderen angeblich »essgestörten« Kindern das richtige Essen lernen. Die Kinder bekommen dafür eine »gemüsebasierte Vollwertkost« und einen gewissen Zeitrahmen, um diese zu verzehren – danach wird wortlos abgeräumt.
Bei diesem kleinen Jungen musste offenbar, wie bei vielen anderen PatientInnen in der Klinik auch, recht oft »wortlos abgeräumt« werden, denn der Film führt uns in ein Untersuchungszimmer, in dem der kleine Junge eine Magensonde eingeführt bekommt – beziehungsweise er zeigt, wie zwei Schwestern dort Erbrochenes aufwischen und danach ihrem Chef Dr. Lion berichten: »Wir haben zu zweit sondiert – weil anders war`s nicht möglich«. (Film »Elternschule«) Offenbar muss der Kampf manchmal auch mit Schläuchen geführt werden – ohne Sedierung.
Darauf legt der Arzt die weitere Ernährung so fest: »Wenn Sie jetzt sagen, dass er schon so gekotzt hat, dann können wir erstmal gucken, dass wenn er’s ohne Kotzen toleriert, dass wir vielleicht auch morgen bei 4 x 50 bleiben und am Sonntag auf 4 x 100 gehen, ne?« (Film »Elternschule«)
Therapie oder Ideologie?
Natürlich kann man sagen, das ist eben »Therapie«. Nur: diese »Therapie« steht so weit außerhalb wissenschaftlich anerkannter Methoden, dass wir nicht darum herumkommen, ihre Herkunft zu betrachten (ausführlich belegt unter: www.kinder-verstehen.de/evidenz_elternschule).
Woher kommt diese Vorstellung vom »Prinzip der Stärke«, das über das »Prinzip der Schwäche« gewinnen muss?
»Für Nomadenvölker, die im Überlebenskampf mit Feinden und widrigen Naturbedingungen stehen, ist eine klare Regelung der Gruppenordnung und Führungshierarchie unerlässlich. Da die Gruppe blind dem »Leitwolf« folgt, muss es ein effektives Ausleseverfahren geben, welches nur den starken Tieren die Führung und damit das Recht zur Fortpflanzung gibt. Gesellschaften sind wie Arten in der Natur. In der Natur geht es darum, dass die Art, die Linie erhalten bleibt. (...)
Einer Familie als verkleinerter Ausgabe einer Gesellschaft geht es nicht anders. (...) Übergibt ein Bauer seinem Sohn ohne weiteres den Hof oder prüft er ihn vorher und macht es ihm nicht zu leicht? (...) Einem schwachen Sohn den Betrieb zu übergeben, könnte das Ende des Betriebes bedeuten. (...) Denn schon die nächste oder übernächste Generation könnte so schwach sein, dass sie möglicherweise aus dem genetischen Pool der Gesellschaft ausscheidet« (Langer in: AuK-Brief 2011).
Woher kommen Aussagen, nach denen die Entwicklung des Kindes im Zusammenhang von Auslese und Überleben kontextualisiert wird? Nach denen Erziehung auf den »Überlebenskampf« vorzubereiten hätte? »Erziehung soll das neurodermitiskranke Kind auf den Überlebenskampf vorbereiten.« (Stemmann 2002, 147)
Oder, wie Langer es im Film »Elternschule« ausdrückt: »Der Säugling, der heute auf die Welt kommt, der heute geboren wird, erwartet Überleben im Urwald. Und das ist ein knochenharter Bursche und der ist wirklich auch der größte Egoist auf dem Planeten. Der muss mich ja dazu bringen, für ihn zu rennen und das ist auch richtig so, weil er kann ja sein eigenes Überleben gar nicht selber sichern. Und deswegen ist das Schreien von Säuglingen für uns auch unerträglich. Wir halten’s nicht aus. Ja, und wo ich noch denke: Der kleine Süße, hat er mich schon dreimal über den Tisch gezogen. Er will überleben! Wie’s mir geht, ist ihm scheißegal, Hauptsache er überlebt.« (Langer, Film »Elternschule«)
Und woher kommen die Vorstellungen, nach denen Babys angeblich nur vier Mahlzeiten brauchen und nachts ab dem vierten Lebensmonat zwölf Stunden durchschlafen sollen? Da sind wir wieder bei Prof. Dr. med Ernst August Stemmann, dem Begründer des Gelsenkirchener Behandlungsverfahrens: »Zu fordern ist, dass die Mütter ihre Säuglinge zu festgelegten Zeiten stillen beziehungsweise füttern. Nach sechs Wochen sollte der Säugling mindestens nachts acht Stunden schlafen und spätestens mit drei Monaten ist eine Nachtruhe von 12 Stunden einzuhalten, um Mutter und Kind genügend Erholungszeit zu verschaffen.« (Stemmann 2002, 214)
Und weiter: »Wenn der Säugling sechs Monate alt ist, sollte die Nahrungsmenge auf vier Mahlzeiten verteilt werden.«
Kein alter Zopf
Wer die Februarausgabe der DHZ verfolgt hat, wird sich erinnern, dass solche Vorstellungen nicht etwa ein alter Zopf sind. Dort wurde in einem Fachartikel zum Thema Fütterstörungen als Fallbeispiel die Behandlung eines sieben Monate alten Säuglings vorgestellt: Vier Mahlzeiten am Tag – mit einer zwölfstündigen Nachtpause. Der Autor: Dietmar Langer, langjähriger Schüler und Mitarbeiter von Prof. Stemmann (Langer 2020).
Und woher kommen die behavioristischen Annahmen, nach denen chronisch kranke Kinder keine Zuwendung bekommen sollen, weil das angeblich ihre Krankheit verstärkt? In einer gemeinsamen Publikation schreiben Stemmann, Lion, Starzmann und Langer wie folgt: »Im Gegensatz zu der akuten Krankheit führt Zuwendung bei der chronischen Krankheit leider zu einer Verstärkung und Fixierung des Leidens.« (Stemmann, Lion, Starzmann & Langer 2004)
Aber die Fragen gehen noch weiter. Woher kommen die Vorstellungen einer »Rangordnung« in Familien?
»Dass die Eltern die Führungsposition für sich beanspruchen, zeigen sie im täglichen Leben (...):
- Vater und Mutter gehen voran, betreten beispielsweise zuerst die Wohnung und das Kind folgt nach.
- Vater und Mutter sitzen nebeneinander, das Kind neben einem der Elternteile.« (Stemmann 2002, 139).
Nun könnte man argumentieren, das sei vielleicht nur noch ein historisch relevantes Zitat. Blättern wir deshalb durch eine Erziehungsfibel zu der in Gelsenkirchen propagierten »liebevoll-konsequenten« Erziehung. Geschrieben von der Vorsitzenden des »Selbsthilfevereins« Allergie- und umweltkrankes Kind. e.V. Frauke Döllekes, Kooperationspartnerin von Dietmar Langer, der für die Erziehungsfibel auch das Vorwort verfasste. Sie schreibt: »Die Rangordnung innerhalb der Familie ist von großer Bedeutung. (…) Gehen wir durch die Tür, gehen die Erwachsenen zuerst – und dann die Kinder.« (Frauke Döllekes: Kinder brauchen Wegweiser – 15 Tipps für eine liebevoll konsequente Erziehung«, Selbstverlag 2015, Seite 30)
Noch einmal: Therapie oder Ideologie?
Ich habe auf meinem Blog www.kinder-verstehen.de (Suchwort: Elternschule) so viele Beiträge zu dieser Frage geschrieben, dass ich hier nur ein paar Hinweise zusammenfassen will: Prof. Stemmann war viele Jahre begeisterter Anhänger von Ryke Hamer, einem deutscher Arzt, der seit 1981 die von ihm erfundene, medizinisch unwirksame und mit erheblichen Risiken verbundene Behandlungsmethode der »Germanischen Neue Medizin« propagierte. Später wurde Ryke Hamer als medizinischer Scharlatan mehrfach verurteilt und bekam seine Approbation entzogen. Aus Hamers Lehre übernahm Stemmann Theorien, wie etwa die des »Revierkonflikts«, der Kinder angeblich zu Asthmatikern mache. Neben »Trennungskonflikten« nahm Prof. Stemmann nämlich auch »Revierkonflikte« als Ursache von chronischem Stress an. Werde zum Beispiel das Neugeborene nach der Geburt etwa wegen eines Notkaiserschnitts von seiner Mutter getrennt, dann verliere es dadurch sein angestammtes »Revier«. Das »Gefühlstrauma«, das es dabei erleide, werde dann zum Auslöser chronischen Stresses.
Schon 2005 stand Stemmann wegen seiner Nähe zur »Neuen Germanischen Medizin« in der öffentlichen Diskussion (Ballwieser 2005).
Irrungen und Verwirrungen
Nun sei jedem Menschen ein Irrweg zugestanden. Nur wundert mich, dass sich die heutige Abteilungsleitung nicht längst von diesem Gedankengebäude und daraus abgeleiteten Krankheitsverständnis offiziell distanziert hat. Bis in jüngste Zeit wurden in der Abteilung Diagnosen wie »Asthma bei Revierkonflikt« gestellt – medizinischer Unsinn aus einer erfundenen Lehre eines wegen Patientenschädigung verurteilten Mannes. Ich finde das unentschuldbar.
Ich wundere mich deshalb auch über die Behauptung der Klinik, das in dem Film Elternschule zu sehende Therapieprogramm sei wissenschaftlich anerkannt und entspreche den aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien. Dies stimmt aber nachweislich nicht. Ich belege dies ausführlich auf meiner Website (siehe Link).
Langer hat zudem in vielen nach Erscheinen des Films erschienenen Interviews behauptet, die dort für eine Vielzahl von Indikationen praktizierte Therapie sei überaus wirksam – er nennt dazu »Heilungsquoten« von 87 % – auch dies sei wissenschaftlich nachgewiesen. Allerdings wurde bis heute keine einzige Studie vorgelegt, die diese Aussage auf dem für solche weitreichenden Aussagen erforderlichen Evidenzniveau untermauern würde.
So steht – im Jahr 2020 – das eigentliche Rätsel vor uns: Warum um alles in der Welt gibt es sogar psychologische Fachgesellschaften, die sich hinter diese Art der »Therapie« von Kindern stellen? Warum bezahlen Krankenkassen solche Therapien? Warum hat dieser Film, in dem viele dieser hoch umstrittenen Therapien gezeigt werden, so viele Menschen begeistert? Warum gilt in einigen Kreisen dieser Film sogar als Matrix und Muster für die Erziehung von Kindern?
Ich habe darauf keine abschließende Antwort, nur Vermutungen (siehe auch Link). Ich bin nach wie vor auf der Suche. Und ich bin nach wie vor erschüttert, wenn mir Eltern berichten, sie hätten sich diesen Film in der Schwangerschaft angeschaut, und fühlten sich jetzt gerüstet für das Kind, das bald da sein wird.
Hinweis
Dokumentarfilm »Elternschule«
»Elternschule« ist ein deutscher Dokumentarfilm über die Arbeit der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik an der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen-Buer. Er wurde 2019 für den Deutschen Filmpreis und 2020 für den Deutschen Grimme Preis nominiert.
Ersterscheinung: 11. Oktober 2018
Regisseure: Jörg Adolph, Ralf Bücheler
Kamera: Daniel Schönauer
Filmdauer: 118 Minuten
Links
AuK-Brief 2011: http://bundesverband-allergie.de/wp-content/uploads/2013/09/AuK_Brief_2011-02.pdf
Website des Autors: www.kinder-verstehen.de
www.kinder-verstehen.de/aktuelles/elternschule-ein-rueckblick/
www.kinder-verstehen.de/evidenz_elternschule
www.kinder-verstehen.de/wp-content/uploads/Serverabzuege_Klinik_Gelsenkirchen.pdf
Literatur
Ballwieser D: Pseudomedizin: Galilei aus Gelsenkirchen. Der Spiegel. 7.3.2005 www.spiegel.de/spiegel/print/d-39613469.html
Bonusmaterial zur DVD-Ausgabe des Films »Elternschule«
Döllekes F: Kinder brauchen Wegweiser – 15 Tipps für eine liebevoll konsequente Erziehung. Selbstverlag 2015
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