Betreuung von schwangeren Frauen mit Asperger-Syndrom

Normal ist anders

Das Asperger-Syndrom ist eine Variante der Autismus-Spektrum-Störung. Bei Mädchen wird es häufig nicht erkannt, weil sie entwicklungsgerecht sprechen, sich kognitiv entfalten und gesellschaftlich anpassen können. Bei betroffenen Frauen sind aber Auffälligkeiten in der Psychomotorik und der sozialen Interaktion festzustellen. In der Schwangerschaft und bei der Geburt brauchen sie eine besonders verlässliche, umsichtige Unterstützung von Hebammen. Doreen Knapp
  • Im Laufe ihres Lebens wissen Betroffene, was ihnen guttut. Routinen können helfen, wie beispielsweise Gartenarbeit. Manche suchen einfach Ruhe in der Natur.

Bei autistischen Frauen ist die Diagnose Asperger-Syndrom schwieriger zu stellen, als bei Männern. Zum einen, weil sie anderen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt werden und diese besser kompensieren können. Zum anderen, weil die Merkmale für das Asperger-Syndrom geschlechterspezifisch unterschiedlich sind, die diagnostischen Ansätze sich jedoch an den ausgeprägten männlichen Verhaltensmustern orientieren. Die Anzeichen sind bei betroffenen Frauen subtiler. Sie werden häufig als außergewöhnlich, eher seltsam wahrgenommen.

 

Von der Welt abgeschnitten

 

Vor einigen Jahren kam eine schwangere Frau in meine Hebammensprechstunde. Anna war auf den ersten Blick eine introvertierte Persönlichkeit mit mangelnder Mimik und Gestik. Ihre Blicke waren kurzweilig, sie wich dem Blickkontakt aus. Eine zwischenmenschliche Wechselbeziehung konnte ich trotz vieler Mühe nicht aufbauen. In der Psychologie spricht man von »Theory of Mind«, um unsere eigenen mentalen Zustände und die der anderen zu verstehen und darauf zu reagieren. Hier entsteht Empathie (Sodian, 2006). Ich hatte das Gefühl, als ob Anna von dieser Welt abgeschnitten wäre.

 

Für die Praxis: Umgang mit Asperger-Betroffenen

 

  • einfache Aussagen erleichtern die Kommunikation
  • detaillierte Aufklärung über bevorstehende Handlungsschritte
  • um Erlaubnis bitten, beispielsweise bei körperlichen Berührungen
  • für Sicherheit und Ruhe sorgen
  • Für den Alltag als junge Mutter mit Kind Struktur gestalten
  • Eigenständigkeit unterstützen und fördern
  • persönliche Bewältigungsstrategien kennenlernen und gemeinsam neue erarbeiten, um auf unbekannte Situationen vorbereitet zu sein
  • sensorische Reizarmut fördern (Licht dimmen, Kopfhörer, Sonnenbrille)
  • Partner oder Partnerin miteinbeziehen
  • die Körperwahrnehmung fördern
  • Entfaltung von empathischen Fähigkeiten fördern
  • gegebenenfalls Regeln aufstellen.

Quelle: Lehnhardt, F.G., et al. (2013).

 

Als ich Anna fragte, was ich für sie tun kann, zeigte sie sich sprachgewandt. Sie erzählte detailgenau den Verlauf ihrer Schwangerschaft bis zum heutigen Tag in der 28. Woche. Während sie erzählte, fiel mir eine formelle Aussprache mit monotoner Stimmvarianz auf. Nach ihrem ausführlichen Monolog wiederholte ich meine Frage noch einmal und Annas Antwort war: »Das weiß ich nicht. Das müssen Sie doch wissen.« Das war 2014.

Im Verlauf der engmaschigen Schwangerschaftsbetreuung lernte ich auch Ben kennen, Annas Partner und Vater ihres Kindes. Sie lebten in einem Mehrfamilienhaus in zwei Wohnungen. Ben klärte mich auf: Anna war schon immer eine Einzelgängerin. Beide kannten sich seit ihrer Kindheit – mit mal mehr, mal weniger Kontakt. Ben war sichtlich eine große Stütze in ihrem Leben.

Annas Wohnung war akkurat aufgeräumt. Damit sie Dinge nicht vergisst, hingen an manchen Stellen Post-it-Zettel: Schlüssel nicht vergessen, Briefkasten leeren, Folsäure einnehmen.

In einem weiteren Gespräch kam heraus, dass bis dato verschiedene Ärzt:innen, Psycholog:innen und Therapeut:innen keine einheitliche Diagnose gestellt hatten. Ich kann mich noch gut an Annas Worte erinnern: »Meine Welt ist eben eine andere als die da draußen.« Trotz vieler unbeantworteter Fragen konnten wir damals eine zufriedenstellende Beziehung aufbauen.

 

Falsche Diagnosen

 

Schon während ihrer Kindheit fühlen sich die meisten betroffenen Frauen dieser Welt nicht zugehörig. Mit Tarnstrategien oder durch Kopieren von Verhaltensweisen lernen weibliche »Aspies«, wie sie sich selbst liebevoll nennen, ihre inhärenten Unterschiede zu überspielen. Das »soziale« Gehirn einer Frau lernt– im Gegensatz zum männlichen Gehirn – die Umsetzung sozialer Fertigkeiten schneller kennen. Genau hier liegt das Problem der Diagnosestellung. Diese Mädchen können lächeln und lachen. Ihre Gesichtsmimik sieht eventuell ein wenig asymmetrisch aus: zu breit. Zu aufgesetzt. Zu unnatürlich. Sie werden sich überwiegend einer Situation, in der gelacht wird, eher anschließen, als dass sie selbst als erste in Gelächter ausbrechen. Freundschaften sind ihnen wichtig, genauso wie eine Partnerschaft. Diese zwischenmenschliche Hürde können sie eher durch kopierte oder erlernte Strategien bewältigen als männliche Betroffene. Ein Hauptgrund liegt im geschlechtsspezifischen Unterschied der Gehirnentwicklung: Das Hormonsystem trägt zur kognitiven Verhaltensweise bei. Während Testosteron das mathematische, räumliche und abstrakte Denken fördert, stützen Östrogene die optische Wahrnehmung und Verarbeitung.

 

Asperger Syndrom: Diagnosekriterien

 

  • perfekter Sprachgebrauch
  • detailgenauer und egozentrischer Erzählstil
  • keine Stimmvarianz, monoton
  • Beeinträchtigung des Vorstellungsvermögens
  • Unfähigkeit, Geschichten zu erzählen oder zu erfinden
  • unfähig, Ironie, Wortwitze oder Metaphern zu verstehen
  • eingeschränkte Psychomotorik
  • ungeschickt und ungelenk, besonders in Stresssituationen
  • stereotype Verhaltens- und Interessenmuster
  • Routine und Rituale liebend, unflexibles Verhalten
  • eingeschränktes Verhaltensmuster
  • sozio-emotionale Beeinträchtigung
  • Beeinträchtigung von Gestik und Mimik
  • Fehlen von zwischenmenschlicher Interaktion
  • egozentrisches Verhalten.

Quelle: Lehnhardt, F.G., et al. (2013).

 

Stereotype Verhaltensweisen sind eine weitere Begleiterscheinung des Asperger-Syndroms. Alltägliche Routineaufgaben und rituelle Handlungsabläufe geben den Mädchen und Frauen Struktur und Halt. Ritenfrömmigkeit beruhigt.

In ihrer Freizeit widmen sie sich ihrer Lieblingsbeschäftigung mit besonderem Interesse. Hier fällt ein immer wiederkehrender Ritus auf. Anders als bei autistischen Männern, deren klassische Spezialinteressen hauptsächlich im technischen, naturwissenschaftlichen oder IT-Bereich liegen, können die Interessen bei Mädchen und Frauen im sozialen Bereich liegen, wie in der Arbeit mit Tieren oder im Erlernen eines Musikinstruments. So wird die Diagnosestellung zum Asperger-Autismus durch typische Mädcheninteressen wie Reiten oder Klavierspielen oft überlagert.

Diese stetige Überlagerung und das funktionale Tarnen führen an einer zügigen Diagnosestellung vorbei und fördern weitere psychosomatische Beschwerden. Ein hoher Anteil der Betroffenen leidet demzufolge an Anorexia nervosa (Westwood & Tchanturia, 2017).

In den letzten Wochen der Schwangerschaft war es mir als Hebamme wichtig, Annas Alltag und den Umgang mit Herausforderungen kennenzulernen. Parallel versuchte ich, durch Gespräche, angeleitete Selbstreflexion und Wahrnehmungsübungen die Verbindung zwischen Mutter und Kind zu fördern. Gemeinsam erstellten wir einen Plan, um auf eventuelle Herausforderungen in der Wochenbettzeit vorbereitet zu sein. Das Gleiche taten wir auch im Hinblick auf die Geburt. Anna und Ben schrieben zusammen einen strukturierten Geburtsplan für das Geburtshilfeteam, der positiv aufgenommen wurde.

 

Reizverarbeitung

 

Anna zeigte eine deutliche Stresssymptomatik, wenn visuelle, taktile und akustische äußere Reize sie überforderten. In ihrem Fall war es das ständige Nägelkauen oder das exzessive Kneten ihrer Finger. Das Gehirn ist mit der Verarbeitung sämtlicher Sinneseindrücke überfordert, da diese ungefiltert einströmen. Manche Sachen fasste Anna gar nicht erst an, wie beispielsweise ein Stück Seife. Dadurch hätte sie eine Gänsehaut bekommen. Hilfsmittel oder Verhaltensveränderungen können dabei helfen, Stressoren auf das Minimale zu reduzieren.

Werden haptische Dinge als unangenehm empfunden, werden sie vermieden. Im Laufe ihres Lebens wissen Betroffene was ihnen guttut und was nicht. Sie weisen auf haptische Unannehmlichkeiten hin. Bestimmte Böden, wie beispielsweise unebenes Kopfsteinpflaster, können durch eine andere neuronale Verknüpfung Schwindel und Übelkeit hervorrufen. Finden sie ihr Umfeld zu laut, tragen sie Kopfhörer, welche die Geräusche minimieren, oder sie suchen Ruhe in der Natur.

Am Tag der Geburt lief wortwörtlich alles nach Plan. Die kleine Mia kam in einer reizarmen und ruhigen Atmosphäre zur Welt. Die vorsorglich eingepackte Sonnenbrille zur Abschirmung von künstlichem Licht und die Kopfhörer gegen zu viele ungewohnte akustische Reize konnten in der Tasche bleiben. Die intensive Aufklärungs- und Wahrnehmungsarbeit rund um die Geburt hatte sich gelohnt. Ben berichtete mir im Nachhinein, dass Anna im Krankenhaus gut den Unterschied zwischen einem Gefühl (Angst) und ihrem körperlichen Befinden (Anspannung) beschreiben konnte.

Anna entwickelte sich zu einer liebevollen Mutter. Sie gab sich Mühe, die kleine Mia verstehen zu können und das Beste für ihr Kind zu tun. Ben sorgte für genügend Auszeiten, wenn Anna überladen war, und unterstützte seine Familie tatkräftig, wo er nur konnte.

Gegen Ende meiner Hebammenarbeit verkündete Anna, dass sie wieder zu ihrem Psychologen gehen werde. Sie brauchte eine externe Vertrauensperson, die ihr zur Seite stand und für Unterstützung sorgte.

Diese Frau ist mir in all den Jahren nicht aus dem Kopf gegangen. Zwischenzeitlich habe ich mich immer wieder gefragt, ob es für ihre Probleme doch vielleicht eine Diagnose gibt. Letztes Jahr fand ich zufällig einen Eintrag in den sozialen Medien von Anna: »Diagnose: Asperger-Syndrom.«

Für die Ursache zur Asperger-Erkrankung gibt es einige Ansätze, aber keine einheitliche Theorie. Eine Möglichkeit ist die intensive Wirkung von Testosteron in der Perinatalzeit. Ein weiteres Erklärungsmodel liegt in der Genetik. Michel Odent liefert aus zusammengetragenen Studien eine weitere Theorie: Der Einfluss von Oxytocin, dem heutigen Geburtsverhalten und die Auswirkungen auf die menschliche Persönlichkeit könnten demnach ein Asperger-Syndrom auslösen (Odent, 2017).

Was wir sehen ist, dass sich solche Menschen scheinbar nicht »normal« verhalten. Doch was ist normal? Ist der Asperger-Mensch nicht genauso normal wie jemand, der betet? Warum nennt man es ein Gebet, wenn ich mit Gott spreche – und wenn Gott mit mir spricht, eine Psychose?

Seltsame Persönlichkeiten gab es schon immer. Die Frage ist nur: Wie wollen wir mit ihnen gesellschaftlich umgehen? Für mich sind sie eine wahre Bereicherung.

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 07/2022

Literatur

Literatur

Lehnhardt, F.-G., et al. (2013). Diagnostik und Differenzialdiagnose des Asperger-Syndroms im Erwachsenenalter, Dtsch Arztebl Int, 110(45): 755–63; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0755

Sodian, B., Thoermer, C. (2006). Theorie des Geistes. In: Schneider, W., Sodian, B. (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie V, Band 2: Kognitive Entwicklung. 495–608.
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