Warum nicht später abnabeln?
Das frühe Abnabeln (early cord clamping/ECC) ist eine vermeidbare Intervention, die den physiologischen Prozess der plazentaren Transfusion verhindert (Katheria et al. 2016). Trotzdem ist es nach wie vor Routine in vielen Kliniken (Downey & Bewley 2010). Dementsprechend finden sich in geburtshilflichen Lehrbüchern weiterhin Empfehlungen, das Kind innerhalb der ersten Lebensminute abzunabeln, um eine schädigende Transfusion des Plazentablutes zu vermeiden, die das Hyperbilirubinämie-Risiko für das Neugeborene erhöhen könnte (Dudenhausen 2011). Dieses Vorgehen verhindert jedoch die positiven kurz- und langfristigen gesundheitlichen Effekte des späten Abnabelns.
Plazentare Blutreserve
Die plazentare Transfusion ist der Transfer des residualen Plazentablutes an das Neugeborene während der ersten Lebensminuten. In der gesamten Schwangerschaft fließt nur kindliches Blut im feto-plazentaren Kreislauf. Gegen Ende befinden sich ungefähr ein Drittel des Blutes in der Plazenta und zwei Drittel im Kind. Durch die einsetzende Atmung und die veränderten Druckverhältnisse im kindlichen Kreislauf kollabieren ungefähr 45 Sekunden nach der Geburt die Nabelschnurarterien und verhindern einen Rückfluss des kindlichen Blutes zur Plazenta, während die Nabelvene noch sauerstoffreiches Blut zum Kind fließen lässt.
Außerdem wird durch den intrauterinen Druck der Wehen weiterhin Blut aus der Plazenta zum Kind gepresst. Um den Gasaustausch in der Lunge zu ermöglichen, benötigt das Neugeborene einen Teil der Blutreserve aus der Plazenta (Katheria et al. 2016). Etwa 20 % des kindlichen Blutvolumens werden durch die Plazentatransfusion bereitgestellt (Farrar et al. 2016). Beim frühen Abnabeln verbleiben 30 % des fetoplazentaren Blutes in der Plazenta, beim späten Abnabeln (delayed cord clamping/DCC) nach drei bis fünf Minuten sind es nur noch 13 % (Katheria et al. 2016). Je später also abgenabelt wird, desto höher ist das Blutvolumen des Neugeborenen.
Der Abnabelungszeitpunkt wird in der Literatur unterschiedlich klassifiziert. In den Lehrbüchern für Hebammenkunde wird das späte Abnabeln als Abklemmen der Nabelschnur nach dem Auspulsieren beschrieben (Stiefel et al. 2013; Dudenhausen 2011). In Studien zum Thema variieren die Zeitpunkte von eineinhalb Minuten nach der Geburt bis zum Auspulsieren der Nabelschnur (Andersson et al. 2011; Hutton und Hassan 2007; Mercer et al. 2017). Die WHO definiert DCC »nicht unter einer Minute nach der Geburt« (WHO 2018). In Abgrenzung zum DCC wird das ECC innerhalb der ersten Lebensminute durchgeführt (Stiefel et al. 2013).
Wirkung auf die Bilirubinwerte
Die Hebammenwissenschaftlerin Eileen Hutton und die Chemikerin Eman Hassan untersuchten 2007 in einer Metaanalyse mit 15 kontrollierten Studien und insgesamt 1.912 Reifgeborenen das Risiko für Anämie, Gelbsucht und die Notwendigkeit einer Phototherapie, Polyglobulie (eine krankhafte Vermehrung der roten Blutkörperchen) und respiratorischen Disstress bei spät abgenabelten, verglichen mit früh abgenabelten Kindern. In der DCC-Gruppe (n=1.001) wurde mindestens zwei Minuten bis zur Abnabelung gewartet. Das ECC erfolgte dagegen meist innerhalb der ersten zehn Lebenssekunden. Betrachtete man den Effekt auf die Bilirubinwerte, zeigte sich kein signifikanter Unterschied in den Serumbilirubinwerten nach 24 und 72 Stunden. Das Risiko, innerhalb der ersten 48 Stunden eine Gelbsucht zu entwickeln, war in der DCC-Gruppe nicht signifikant erhöht. nach 3 bis 14 Tagen scheint es laut Studienlage keine Unterschiede zu geben. Dies wurde jedoch nur in einer Studie der Metaanalyse untersucht. Ebenso war die Notwendigkeit einer Behandlung mit Phototherapie nicht signifikant häufiger gegeben. Hutton und Hassan kommen zu dem Schluss, dass eine verzögerte Durchtrennung der Nabelschnur um mindestens zwei Minuten keine Nachteile für reife Neugeborene mit sich bringt. Vor allem profitierten die Kinder von höheren Eisenwerten und der daraus folgenden Senkung des Anämierisikos um etwa 47 % (Hutton et al. 2007).
Die Hebammenwissenschaftlerin Susan McDonald und ihr Team verglichen 2013 in einem Review 15 randomisierte Studien. In diesem wurden 3.911 geborene Mutter-Kind-Paare mit als low-risk eingestuften Geburten am Termin untersucht. Das Augenmerk lag dabei auf den Auswirkungen der unterschiedlichen Abnabelungszeitpunkte auf Mutter und Kind. Dabei wurde ECC bis 60 Sekunden und DCC zwischen einer Minute und dem Auspulsieren der Nabelschnur definiert.
In Bezug auf die Hyperbilirubinämie benötigen in der ECC-Gruppe weniger Neugeborene (2,7 %) eine Phototherapie als in der DCC-Gruppe (4,4 %). Dennoch überwogen die Vorteile, wie kurzfristig bessere Hämoglobinwerte und langfristig – bis zu sechs Monaten nach der Geburt – höhere Eisenspeicher.
Langzeitwirkungen auf die Blutzusammensetzung
In einer schwedischen Studie aus dem Jahr 2011 beobachteten der Mediziner Ola Andersson und sein Team 382 gesunde Mutter-Kind-Paare nach Geburten am Termin. Ziel war es herauszufinden, wie sich die Hämoglobinkonzentration und der Eisenspeicher im Vergleich der ECC (bis zehn Sekunden post partum) zur DCC (ab drei Minuten post partum) verhalten. Zusätzlich wurden Ergebnisse über die Neugeborenen-Anämie und die therapiebedürftige Hyperbilirubinämie erhoben. Dafür wurden 48 Stunden und vier Monate nach der Geburt Blutuntersuchungen durchgeführt. Es fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen in Bezug auf eine phototherapiebedürftige Hyperbilirubinämie. Die Bilirubinwerte waren in beiden Gruppen vergleichbar. Die Hämoglobin- und Hämatokrit-Serumwerte waren nach zwei Tagen höher in der DCC-Gruppe als in der ECC-Gruppe. Eine Polyglobulie konnte nicht nachgewiesen werden. Nach vier Monaten gab es keinen Unterschied der Werte. Die WissenschaftlerInnen sehen in ihren Ergebnissen deutliche Vorteile des DCC für reifgeborene Kinder und somit eine Bestätigung der Befunde aus der Metaanalyse von Hutton und Hassan (Andersson et al. 2011).
In einer US-amerikanischen randomisiert-kontrollierten Studie von Hebammenwissenschaftlerin Judith Mercer und KollegInnen aus dem Jahr 2007 wurden 73 Frauen und ihre Neugeborenen zur Auswirkung des Abnabelungszeitpunktes auf das plazentare Residualvolumen, sowie die Hämoglobin- und die Serum-Bilirubin-Werte nach 24 bis 48 Stunden untersucht. Während bei der Kontrollgruppe (n=36) ECC durchgeführt wurde, fand die Abnabelung in der Interventionsgruppe (n=37) nach fünf oder mehr Minuten statt. Im Ergebnis gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich der Serum-Bilirubin-Werte nach 24 bis 48 Stunden. Ebenso wenig unterschied sich die Anzahl von phototherapiebedürftigen Neugeborenen. Demnach unterstützen die Ergebnisse die Evidenz des hämatologischen Vorteils des späten Abnabelns. Auch hier zeigt sich kein Zusammenhang mit einem erhöhten Auftreten einer Hyperbilirubinämie.
Unbegründete Ängste
Nach Auswertung der beschriebenen Studien und Empfehlungen ist nicht nachvollziehbar, warum sich der späte Abnabelungszeitpunkt bei reifen Neugeborenen noch nicht durchgesetzt hat. In keiner Untersuchung wurde das ECC befürwortet, um Hyperbilirubinämien zu vermeiden. Ebenso wurde in allen untersuchten Studien eine Verbesserung der neonatalen Hämoglobinwerte und langfristig eine effektive Prävention eines Eisenmangels durch das DCC beschrieben. Es ließen sich keine Zusammenhänge zwischen dem Abnabelungszeitpunkt und einem erhöhten Risiko für Polyglobulie beim Neugeborenen finden.
Die WHO spricht eine klare Handlungsempfehlung zu DCC aus, da es sich bewiesenermaßen günstig auf die mütterliche und kindliche Gesundheit auswirken kann. Einer Implementierung von DCC in die derzeitigen geburtshilflichen Standards steht demnach nichts entgegen. Denn nach der Studienlage kann davon ausgegangen werden, dass kein Zusammenhang zwischen Spätabnabelung und Hyperbilirubinämie besteht.
Unnötige Interventionen unterlassen
Eine der wichtigen Aufgaben von Hebammen besteht darin, den Aufbau einer stabilen Beziehung zwischen Eltern und Kind zu fördern. Nach der Geburt bedeutet das neben den gesundheitlichen Beobachtungen, die ungestörte Kontaktaufnahme durch Unterlassen unnötiger Interventionen zu fördern (Derksen 2013).
Auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisse können Hebammen Eltern über die gesundheitlichen Vorteile des späten Abnabelns für ihr Kind aufklären. Perinatale Abläufe sollten dahingehend verbessert werden, dass die physiologische plazentare Transfusion in jedem geburtshilflichen Setting unterstützt wird. Das Management der Plazentarperiode sollte überdacht werden, vor allem, wenn es um den Zeitpunkt der leitliniengerechten Oxytocingabe zur Vermeidung postpartaler Hämorrhagien geht (AWMF 2016; NICE 2017). Denn es stellt sich die Frage, ob die Oxytocingabe vor Abnabelung zu einer unphysiologischen Hypertransfusion und folglich zu einem höheren Risiko unter anderem für eine Hyperbilirubinämie führen kann (Downey et al. 2009). Es bedarf weiterführender Forschung. Unterschiedliche Ansichten gibt es auch in Hinblick auf rhesus-negative Mütter. Die Empfehlungen, in diesem Fall sofort abzunabeln (Weiss 2007), sollten wissenschaftlich neu durchdacht werden. Ebenso bleibt zu klären, welche Folgen das frühe Abnabeln für die Gebärende hat.
Literatur
Andersson O, Hellström-Westas L, Andersson D, Domellöf M: Effect of delayed versus early umbilical cord clamping on neonatal outcomes and iron status at 4 months: a randomised controlled trial. Bmj 2011. 343, d7157
Andersson O, Lindquist B, Lindgren M: Effect of Delayed Cord Clamping on Neurodevelopment at 4 years of Age. JAMA Pediatrics 2015. 169(7), 631–638
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF): Betreuung von gesunden reifen Neugeborenen in der Geburtsklinik. 2012. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/024-005l_S2k_Betreuung_von_gesunden_reifen_Neugeborenen_2012-10-abgelaufen.pdf
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