Wie habe ich geboren?
»Es gibt Ereignisse, die so wichtig sind, dass das Erlebnis in der Zeit, in der es geschieht, keinen Platz hat. Es benötigt die zusätzliche Zeit verlangsamter Wahrnehmung.«
Marie Hermanson. In: »Muschelsand«
Die Geburt eines Kindes ist ein solches Ereignis. Eine überwältigende Grenzerfahrung, die unser ganzes Sein einschließt. Ein Ausnahmezustand, in dem wir weit über das Gewöhnliche hinauswachsen. Es liegt nicht in der Natur der Geburt, dass die Gebärende alles, was um sie herum geschieht, mit ihren Sinnen aufnimmt, erfasst und integriert. Vielmehr tut sie gut daran, sich voll und ganz auf das Geburtsgeschehen einzulassen, in ihrem Körper zu Hause zu sein und die Welt um sich herum zu vergessen. Vieles von dem, was unter der Geburt geschieht, können wir erst im Nachhinein begreifen und verstehen. Möchte die Mutter ihre Geburtserfahrung reflektieren, kann ihr Geburtsbericht dabei eine wichtige Rolle spielen.
Die Geburt meines ersten Kindes
Meine erste Geburt lief überhaupt nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Am Morgen danach verließ ich das Krankenhaus, ich wollte nur noch nach Hause. Laut Geburtsbericht hatte ich 12 Stunden und 40 Minuten gebraucht, um meinen Sohn zur Welt zu bringen. In einer klinischen Geburt voller Routinen, vaginaler Untersuchungen und Interventionen. Mein persönlicher Albtraum: ein Dammschnitt gegen meinen ausdrücklich formulierten und schriftlich fixierten Willen.
Ich startete mit dem eisernen Wunsch ins Wochenbett, meinen Sohn zu stillen – komme was wolle. Es kamen entzündete Brustwarzen, Milchstaus, Quarkwickel und Stillhütchen. Die Hebamme, die mich schon während der Schwangerschaft begleitet hatte, stand mir zur Seite, ermutigte, erklärte und motivierte. Ich versorgte mein Baby und tauschte mich mit meinem Partner über das aus, was im Kreißsaal geschehen war. Erinnerst du dich noch? Wann genau ist das passiert? Morgens habe ich das doch gut gemacht mit den Wehen, oder? Hatten sie nicht beim Vorgespräch gesagt, dass sie kein Dauer-CTG anlegen? Ich trug es doch die ganze Zeit, oder? Jetzt sag schon, stimmt das? Hast du gesehen, wie er die Schere rausholte, um den Schnitt zu machen? Ja aber, warum...
Ich hatte sehr viele Fragen, fühlte mich mit den Bildern, Erinnerungen und Albträumen alleine. Doch das Leben ging weiter und ich war als Mutter gefragt. Mein Mann wurde müde, mit mir über das Geschehen im Kreißsaal zu sprechen, und so schrieb ich mir das Erlebte von der Seele. Ich adressierte meine Gedanken auch an das Klinikpersonal. Schilderte, wie ich die Geburt erlebt hatte und stellte meine Fragen. Schließlich forderte ich den Geburtsbericht an und traf mich zu einer Nachbesprechung mit meiner Kreißsaalhebamme.
Der Geburtsbericht half mir, Erinnerungslücken zu schließen. Ich las dort, in welchem Tempo sich der Muttermund geöffnet hatte, wann ein Tropf mit Flüssigkeit, Schmerzmittel oder Wehenförderung angehängt wurde, dass grünes Fruchtwasser abging und wann der Arzt hinzugerufen wurde, der schließlich den Dammschnitt setzte. Doch der Bericht führte zu neuen Fragen: Was bedeuten all diese Abkürzungen? War das CTG nun auffällig oder nicht? Wann hat die Hebamme mir diese wohltuende Wärmflasche gegeben? Warum wurde ich vor dem Dammschnitt nicht aufgeklärt?
Bei Recherchen im Internet stieß ich auf den Verein Greenbirth e.V. und einige Publikationen zum Thema Dammschnitt. Dieser hatte bei mir mehr als eine Narbe im Intimbereich hinterlassen – er war ein Einschnitt in mein Leben. Ich wendete mich an die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD), die mir riet, auf Grundlage der Patientendokumentation ein Gutachten beim Medizinischen Dienst meiner Krankenversicherung durchführen zu lassen. Für diese »Prüfung eines ärztlichen Behandlungsfehlers« schrieb ich ein Gedächtnisprotokoll und entband alle Beteiligten von ihrer Schweigepflicht. Fast ein Jahr später hielt ich das Ergebnis in Händen: Ein 17-seitiges Gutachten, das sich in allen Details mit der Geburt meines Sohnes befasste und zu dem Schluss kam, dass der Dammschnitt »bei Zeichen fetaler Gefährdung zur Abkürzung der Austreibungsperiode medizinisch begründet« war.
Der Geburtsbericht hatte mir einen wertvollen Dienst erwiesen, doch an dieser Stelle endete meine Suche nach Antworten auf bedrucktem Papier. Was es jetzt brauchte, waren Menschen, die mich dabei begleiteten, mein schwieriges Geburtserlebnis in meine Lebensgeschichte zu integrieren.
Eine Hilfe, um zu verstehen
Im Folgenden möchte ich auf drei Aspekte eingehen, warum der Geburtsbericht für Mütter von Bedeutung sein kann. Ich bin mir dabei vollkommen bewusst, dass eine Hebamme, die drei oder mehr wehende Frauen gleichzeitig betreuen muss, unmöglich in aller Genauigkeit jedes Ereignis dokumentieren kann. Die Realität im Kreißsaal bringt Rahmenbedingungen mit sich, die eine ausführliche Dokumentation in vielen Fällen unmöglich machen. Fakt ist auch, dass ein Großteil der Mütter ihren Geburtsbericht niemals zu Gesicht bekommen wird. Doch für einige Mütter sind diese beschriebenen Seiten überaus bedeutsam.
1. Nachvollziehen, was passiert ist
In verschiedenen Facebook-Gruppen fragte ich Mütter, warum sie den Geburtsbericht ihres Kindes angefordert hatten. Die häufigste Antwort: »Ich wollte nachvollziehen, was passiert ist.«
Der Geburtsbericht gibt der Mutter Wissen darüber, was zu welchem Zeitpunkt geschehen ist, welche Personen anwesend waren und was diese taten. In ihm ist nachzulesen, welche medizinischen Interventionen durchgeführt wurden und warum sie zum jeweiligen Zeitpunkt angebracht waren.
Das subjektive Erleben der Mutter wird sich durch die Einsicht in den Geburtsbericht kaum ändern. Ich empfand die vaginalen Untersuchungen während der Geburt als störend, unangenehm und zu häufig – doch ich habe sie nicht gezählt. Der Geburtsbericht spricht von sieben vaginalen Untersuchungen. Viel oder wenig?
Er kann als Grundlage für die eigene Auseinandersetzung dienen. Eigene Erinnerungen fügen sich mühelos in den zeitlichen Ablauf des Berichtes ein oder sie stehen in Widerspruch dazu. Er kann Erinnerungslücken schließen und gibt uns damit Antworten oder er wirft neue Fragen auf. Er hilft uns zu verstehen oder lädt uns ein, offene Rätsel zu lösen, zu forschen und für die Zukunft, also eine weitere Geburt, wichtige Schlüsse zu ziehen. So wird er zum Eingangstor zu einer Reise, die uns die Geburt nachvollziehen und verstehen lässt. Er kann uns helfen, die Frage »Wie habe ich geboren?« zu beantworten.
Soll der Geburtsbericht in dieser Art und Weise nützlich für die Mutter sein, setzt das voraus, dass sehr sorgsam und ausführlich dokumentiert wurde. Er kann diesen Zweck nicht erfüllen, wenn der professionellen Dokumentation keine Wichtigkeit beigemessen wurde, das Protokollieren aus Zeitgründen nicht möglich war oder gar bestimmte Details bewusst verschwiegen oder falsch dargestellt wurden. Medizinische Abkürzungen und eine unleserliche Handschrift erschweren das Verständnis zusätzlich und führen zu weiteren Fragen.
2. Austausch über das Erlebte
Hat die Mutter nachvollzogen, was geschehen ist, hilft es ihr, sich mit anderen Beteiligten auszutauschen. Mit jedem Gespräch kommt eine neue »Realität« ins Spiel. Wie hat der Partner die Geburt wahrgenommen? Welche Rolle hatte die Doula? Wie denkt die Hebamme rückblickend über den Geburtsverlauf? Alle Beteiligten können zur Aufklärung beitragen und mit ihrer Sichtweise das Bild der Mutter vervollständigen. Viele Kliniken bieten inzwischen Gespräche zur Nachbereitung an. Der Geburtsbericht kann eine wertvolle Gesprächsgrundlage sein, wenn die Mutter diese Möglichkeit wahrnehmen möchte. Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Austausch nur dann fruchtbar ist, wenn auch das Geburtsteam daran interessiert ist, seine Arbeitsweise zu hinterfragen, zu reflektieren und zu verbessern.Im Rahmen eines solchen Gesprächs kann die Mutter Unklares erfragen, Erklärungen zur Kenntnis nehmen, Zusammenhänge verstehen, Alternativen erfragen, Zweifel hegen, Maßnahmen in Frage stellen, Wendepunkte erkennen, den Einzelheiten Bedeutung geben und neue Einsichten gewinnen. All diese Prozesse können ihr helfen, zu verstehen, warum die Geburt ihres Babys genau so verlaufen ist. Wünschenswert, dass sie gestärkt aus einer solchen Nachbesprechung hervorgeht, weil sie in ihrem Erleben gesehen und ernst genommen wurde. Weil sie Antworten auf ihre Fragen erhalten hat und weil daraus eine Chance erwachsen ist, für eine weitere Geburt zu lernen.
Ein wunderbares Lernfeld, nicht nur für die Mutter, sondern auch für die Menschen, die diese Geburtsreise dokumentiert und begleitet haben. Auch für den teaminternen Austausch, interdisziplinäre Fallbesprechungen oder Supervisionen bietet sich der Geburtsbericht als Grundlage an, wenn es zum Beispiel darum geht, schwierige Geburtsverläufe nachzubesprechen und aus Fehlern zu lernen.
Ein Geburtsbericht ist für die heilsame Aufarbeitung einer schwierigen Geburt nicht zwingend nötig. Wer das Angebot einer unbeteiligten Fachkraft wahrnehmen und zum Beispiel ein Geburtsnachsorgegespräch oder eine körperorientierte Psychotherapie in Anspruch nehmen möchte, ist nicht auf die vorliegende Dokumentation angewiesen. Dennoch kann ein Blick in den Geburtsbericht sinnvoll sein, wenn die Mutter sich entscheidet, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
3. Der Geburtsbericht als Beweisstück
Wir wissen um die aktuellen Missstände in der Geburtshilfe. Wir wissen von Personalmangel und Kostenminimierung, von sinnlosen, weil nicht evidenzbasierten Routinen, Manipulation, Unter-Druck-Setzen und Gewalt an Gebärenden. Geburtsberichte spiegeln die Katastrophen, die sich bei vielen Geburten abspielen, nicht wider. In Facebook-Gruppen, in denen Frauen sich über ihre schmerzvollen und übergriffigen Erfahrungen während der Geburt austauschen, zeigt sich, dass der Geburtsbericht in diesen Fällen ein lückenhaftes oder gar verfälschtes Bild der Geschehnisse zeichnet. Kann er dennoch nützlich sein?
In solchen Fällen kann er als Beweisstück dienen. Wenn zum Beispiel ein unabhängiges Gutachten des medizinischen Dienstes erstellt werden soll. Oder wenn die Frau in Erwägung zieht, eine Anzeige wegen Körperverletzung zu stellen, weil ihr eine Fehlbehandlung, Überbehandlung oder Gewalt widerfahren ist.
Eine Dokumentation, die sich nicht nur auf das Allernötigste beschränkt, hilft in diesen Fällen auch dem Geburtsteam. Denn dort, wo das Warum festgehalten wurde und es für die durchgeführten Untersuchungen und Maßnahmen einen erklärlichen Grund gab, bleibt weniger Raum für offene Fragen. Wenn beschrieben wird, wie die Gebärende den Schmerz bewältigt und warum eine Intervention in Erwägung gezogen wurde, werden Entscheidungen und Abläufe nachvollziehbar. Ein Geburtsbericht, der diese Prozesse sichtbar macht und in dem zu lesen ist, wie eine Aufklärung stattgefunden und die Gebärende in den Entscheidungsprozesse einbezogen wurde, stellt für die beteiligten GeburtshelferInnen eine wertvolle Absicherung dar.
Paradiesische Zustände, würde der Geburtsbericht Antwort auf alle Fragen geben. Verständlich, dass er das in den meisten Fällen nicht tut. Ein Dilemma für die Mütter, die nach einer traumatischen Geburt verzweifelt nach Antworten suchen.
Eine bleibende Erinnerung?
Eine Mutter kommentierte, dass der Geburtsbericht wohl kaum zu nostalgischen Erinnerungszwecken diene. Klar, dass er das nicht tut, wenn die Geburt ein schwieriges oder gar traumatisches Erlebnis war. Was aber, wenn die Gebärende ihr Kind weitgehend selbstständig, selbstbestimmt und natürlich geboren hat? In Hausgeburtsforen berichten Frauen durchaus, dass es sie mit Freude erfüllt habe, den Bericht der Hebamme zu lesen. Nicht wenige legen den Geburtsbericht in die Erinnerungskiste ihres Babys. In diesem Fall kommt ihm eine weitere Bedeutung zu, weil er dem Kind die Frage »Wie wurde ich geboren?« beantwortet, wenn es Interesse an seiner Geburt zeigt.
Auch ich besitze noch einen zweiten Geburtsbericht. Einen, der mir als nostalgische Erinnerung taugt. Auf zwei Seiten dokumentierte die Hebamme die Hausgeburt meines zweiten Kindes. Vaginale Untersuchungen werden nicht erwähnt, weil sie nicht stattfanden. Es wird beschrieben, wie ich tönend veratme, in die Wanne steige, aktiv in meine Hände schiebe und mein Baby aus dem Wasser hebe. Man könnte kritisieren, dass diese nicht medizinischen Details nicht relevant wären. Doch wir sprechen nicht über eine Knieoperation, sondern über eine Geburt.
Ist es nicht der Wunsch einer jeden Hebamme, mehr solche (Geburts-)Geschichten zu schreiben? Geschichten, die Zeugnis ablegen von einer frauenzentrierten, respektvollen Geburtsbegleitung, die Frauen darin bestärkt, aus eigener Kraft zu gebären. Geschichten, die davon erzählen, wie die Mutter-Kind-Einheit ihre Geburtsreise bewältigt hat und in denen Störungen und Eingriffe in den natürlichen Verlauf vermieden werden und wo unumgänglich, reflektiert, begleitet und nachvollziehbar gemacht wird. Egal, an welchem Ort sich die Handlung abspielt.
Geburtsberichte, die solche Geschichten erzählen, sind ein Beweis dafür, dass die Geburtsarbeit der Frau gesehen und gewürdigt wurde, die Beteiligten sich der Bedeutung ihres Handelns bewusst waren und für sie jede einzelne Geburt ein Ereignis größter Wichtigkeit darstellt.
Hilfe, um die Geburt zu verstehen
Folgendes gehört in einen Geburtsbericht, damit die Mutter den Geburtsverlauf nachzuvollziehen kann:
- Zeitlicher Ablauf der Geschehnisse – Was ist wann passiert?
- Umgang mit den Wehen – Wie hat die Gebärende die Geburtsarbeit bewältigt?
- Psychische und emotionale Aspekte – Welche Gefühle und Stimmungen waren präsent?
- Anwesende Personen und ihre Rollen – Wer hat was getan?
- Geburtsverlauf – Wie steht es zum Beispiel um Wehenabstände, Fruchtblase und die Lage und Position des Kindes im Becken?
- (Medizinische) Interventionen und ihre Indikation – Warum fanden welche Maßnahmen statt?
- Kommunikation über den Verlauf – Wurde die Gebärende aufgeklärt und hat sie eingewilligt?
- Baby, Bonding und Stillen – Wie hat das Baby seine erste Lebensstunde verbracht?
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