Informierte Entscheidung im Notfall

Zuwendung gegen Schock und Trauma

Kasuistik eines Notfalls: Eine Frau muss in der 31. Schwangerschaftswoche wegen starker Blutungen per Kaiserschnitt entbunden werden. Hier zeigt sich, dass manchmal eine informierte Entscheidung der Eltern nicht mehr möglich ist, ohne das Leben von Mutter und Kind zu riskieren. Wie lässt sich eine nachhaltige Traumatisierung vermeiden? Peggy Seehafer
  • Frauen können bei Geburten traumatische Erfahrungen machen – auch wenn alle ihr Bestes gegeben haben.

Fallgeschichte: Eine 21-jährige III gravida, 0 para kommt in der 31+0 SSW mit leichtem Ziehen im Unterbauch und leichten Blutungen am Sonntagnachmittag in die Klinikaufnahme.

Sie hat Angst, dass etwas nicht in Ordnung ist. Als diensthabende Hebamme will ich mir die Vorlage der Frau ansehen, um die Blutung einzuschätzen. Aber sie hat gar keine in ihrem String-Tanga liegen. Ich entspanne mich also augenblicklich und gebe der Frau eine Vorlage, damit wir später sehen können, ob es sich um eine frische oder eine alte Blutung handelt. Während die Frau zur Toilette geht, um eine Urinprobe abzugeben, fragt der Mann mit schuldbewusster Stimme, ob es daran liegen könnte, dass sie letzte Nacht Sex hatten. – „Oh ja, das kann einfach eine Kontaktblutung sein. Das ist nicht weiter wild. Wir schauen uns alles an und dann können Sie wahrscheinlich wieder nach Hause gehen. Das passiert gar nicht so selten.“

Die Frau liegt also am CTG, Vitalzeichen von Mutter und Kind sind in Ordnung. Nach 20 Minuten sagt die Frau: „Jetzt wird es ein bisschen feucht.“ Dafür habe sie ja die Vorlage, sage ich zu ihr.

Vielleicht ist es ja Fruchtwasser oder einfach eine Infektion. Das CTG zeigt keine Veränderungen der fetalen Herzfrequenz. Weitere sechs Minuten später wird es sehr nass um die Frau, und es zeigt sich eine plötzliche starke Blutung mit Abgang von etwa 200 Milliliter frischem Blut.

Die diensthabende Ärztin wird hinzugerufen, die Frau wird auf einen Untersuchungsstuhl umgelagert. Der Ultraschallbefund zeigt eine normale Fruchtwassermenge, ein zeitentsprechend großes Kind in Schädellage und eine Plazenta ohne Auffälligkeiten. Bei der Spekula-Einstellung ergießen sich erneut ein etwa 150 Milliliter großer Schwall und Koagel aus der Scheide. Der Oberarzt wird hinzugerufen. Auch er sucht ausführlich nach der Blutungsquelle. Der Muttermund ist geschlossen, der vorangehende Teil des Kindes weit über Beckeneingang.

Noch während die Frau in Steinschnittlage auf dem Untersuchungsstuhl liegt, wird ihr Blut für die Laborbestimmung und die Konservenbestellung in Bereitschaft abgenommen. Die Frau erhält außerdem eine Braunüle und zwölf Milligramm Celestan intramuskulär. Alles jeweils mit kurzer Vorwarnung, aber ohne ausführliche Aufklärung geschweige denn Einwilligung nach einer informierten Entscheidungsfindung.

Die junge Frau ist völlig aufgelöst, ihr Partner in voller Panik, dass sie das mit dem Sex ausgelöst haben könnten. Bis vor einer halben Stunde war die Welt noch in Ordnung und nun sieht es um den Untersuchungsstuhl herum aus wie nach einer Geburt.

Die Herztöne des Feten sind die ganze Zeit über stabil. Nachdem zwar eine Randsinusblutung vermutet, aber nicht dargestellt werden kann und die Blutung steht, wird die Frau in ein weiches Bett umgelagert. Nach kurzer Besprechung wird sie im Kreißsaal zunächst unter Dauer-CTG weiter überwacht.

Dort versucht der Oberarzt, das Paar in einem Gespräch über die Situation aufzuklären und darüber, dass es sein könnte, dass die Blutung stärker wird und dass eingegriffen werden muss. Ob der Größe des Babys und der Situation wäre dann ein Kaiserschnitt die einzige Möglichkeit. Aber es könnte auch sein, dass sich alles wieder beruhigt und die Schwangerschaft weiter erhalten bleibt. Ein Kinderarzt hat leider keine Zeit, um mit der Schwangeren über die Bedeutung und Auswirkungen einer Frühgeburt zu sprechen. Auch der Anästhesist ist mit anderen Fällen beschäftigt und kann kein Gespräch über eine eventuell notwendig werdende Narkose mit ihr führen.

Wie weit soll man auch aufklären, wenn dann vielleicht doch alles ruhig bleibt, aber die Frau für den Rest der Schwangerschaft und vielleicht ihres Lebens verängstigt würde?

Vier Stunden später wird das CTG abgenommen. Die Frau darf zum Duschen und zur Toilette aufstehen. Es passiert nichts. Aber eine weitere Stunde später ergießt sich erneut schwallartig eine große Blutmenge. Entscheidung zur akuten Sectio. Geburt eines Jungen mit 1.670 Gramm, dessen Atmung aufgrund seiner Unreife mit CPAP unterstützt werden muss und der unmittelbar in die Kinderklinik verlegt wird.

Die Frau kommt postoperativ auf Station und wird dort im Wochenbett von den Hebammen weiterbetreut, die sie aufgenommen hatten. Antepartal hat die Frau circa 700 Milliliter Blut verloren, intrapartal noch mal 600 Milliliter. Sie ist körperlich stabil und erstaunlich schnell auf den Beinen, aber sehr blass.

Aus geburtshilflicher Sicht ist die Versorgung der Frau optimal verlaufen. Alle notwendigen Untersuchungen und Maßnahmen wurden sofort eingeleitet. Sie war glücklicherweise rechtzeitig in der Klinik angekommen, sie wurde sofort intensiv untersucht, alle wichtigen Laborparameter wurden umgehend bestimmt, sie erhielt die erste Dosis zur Lungenreife, die noch knapp sechs Stunden wirken konnte, Blutkonserven wurden bereitgestellt, das Frühgeborenen-Reanimationsteam stand bereit und ein geburtshilfliches Team konnte umgehend operieren.

Aber mit informierter Entscheidungsfindung hatte das Ganze nichts zu tun.

Man muss sich mal vorstellen, wie das wohl ist, wenn man als noch unerfahrene, junge Frau zwei Monate vor der erwarteten Geburt plötzlich von einer Lebensrettungsmaschinerie überrollt wird, obwohl einem selbst gar nichts weh tut: aus den Sommersachen heraus, in ein Klinikbett, auf eine Intensivstation „verhaftet“ …

 

Welche Alternativen?

 

Nach dem aufgelösten Zustand während der ersten Untersuchung blieben der Frau nur wenige Stunden, um sich daran zu gewöhnen, dass es vorbei ist mit der Idee von der natürlichen Schwangerschaft und der schönen Geburt am Termin im hebammengeleiteten Kreißsaal. Dass sie dafür mehr Zeit gebraucht hätte, lässt sich gut nachvollziehen.

„Es sind Frauen, deren körperliche und psychische Grenzen massiv verletzt wurden. Nicht nur, weil sie die Entscheidung nicht nachvollziehen konnten, sondern auch, weil sie sich als Person nicht geachtet fühlten. Das Gefühl, ‚verloren zu sein‘ – das Erleben eines massiven Kontrollverlustes – ist nachhaltig gesundheitsschädigend“, schrieb die Hebamme und Ethnologin Dr. Angelica Ensel in ihrem Editorial im vergangenen Jahr im August, mit dem sie das Titelthema „Kaiserschnitt“ einleitete (DHZ 8/2015, Seite 2).

Aber welche Alternative hätte es gegeben? Sonntagnachmittag in einer Klinik mit besonders hohem Geburtenaufkommen in den Sommermonaten. Eine Schwangere kommt mit einem unerwarteten Notfall in einer frühen Schwangerschaftswoche. Sie ist die gesamte Zeit in einer Eins-zu-eins-Hebammen-Betreuung, alle Untersuchenden sprechen mit dem Paar darüber, was gerade gemacht wird, was sich darstellt, wie die Prognose sein könnte. Aber die Zeit drängt und es ist keine Gelegenheit, in Ruhe das Für und Wider abzuwägen, in einfacher Sprache darzustellen und die Eltern zu fragen, wie sie es denn gern hätten, zumal es keine Alternativen gibt. Das Kind ist mit 31 Schwangerschaftswochen groß genug, um in jedem Fall die Maximaltherapie zu erhalten, notfalls auch ohne Einwilligung der Eltern. Wegen der Blutung kommt kein anderer Geburtsmodus als der Kaiserschnitt in Frage, ohne das Leben der Mutter zu riskieren.

 

Nach dem Drama, vor dem Trauma?

 

Am Tag nach der Geburt des Kindes ist die Frau körperlich fit, aber psychisch stark angeschlagen und extrem müde, da sie in der Nacht nach dem Kaiserschnitt zu aufgeregt war, um zu schlafen. Lange und ausführliche Gespräche mit der Hebamme und dem Operateur können das Gefühl der Traumatisierung nicht so schnell aufheben. Außerdem kommen verschiedene Aufgaben auf die jetzt junge Mutter zu: Milchstimulation, Bonding mit dem Kind in der Kinderklinik, Besuch von der eigenen Mutter, weitere Laboruntersuchungen und vieles mehr.

Wir waren uns im Team einig, dass es der Alptraum für die Frau sein muss und dass wir weit weg von einer informierten Entscheidung waren. Aber dass es keine bessere Lösung gab, außer ihr anschließend für jedes Gespräch zur Verfügung zu stehen, war uns ebenso klar. Nach drei Tagen kam die Mutter langsam psychisch zu sich und hatte dann auch einen verstärkten Gesprächsbedarf, der – soweit es möglich ist – gedeckt wurde. Beiden Eltern wurde dringend eine psychologische Weiterbetreuung angeraten, denn auch das Gespenst, durch Sex die Plazentalösung ausgelöst zu haben, war keineswegs vertrieben.

Es bleibt zu befürchten, dass die Paarbeziehung auf eine harte Probe gestellt wird.

Im Rahmen der Möglichkeiten ist die Geburt gut verlaufen und dennoch werden die Eltern traumatisiert sein. Für die Hebammen und ÄrztInnen ist diese Art der Arbeit unbefriedigend in Bezug auf die Einbeziehung der Frau, aber relativ befriedigend, was das geburtshilfliche Management angeht. Besser war es nicht möglich!

 

Resümee

 

Das ist die typische Kasuistik eines Notfalls, der mit dem Erleben des totalen Kontrollverlustes einhergeht. Obwohl uns das als professionellen HelferInnen bewusst ist, gibt es keine Möglichkeit, etwas anderes zu tun.

Die nachhaltige psychische Traumatisierung der werdenden Eltern wird unter Abwägung des Blutverlustes mit Kreislaufversagen der Mutter und des drohenden intrauterinen Kindstodes in Kauf genommen. Das ist die unvermeidbare Nebenwirkung von echter Notfallrettung.

Das entbindet uns als ErsthelferInnen aber nicht in jeder Situation davon, mit den werdenden Eltern nach einer informierten Entscheidung zu suchen. Oft genug ist die Zeit vorhanden, um das Gefühl des Kontrollverlustes zumindest zu minimieren.          >

 

Kommentar

 

Es gibt Situationen, in denen die Begleitenden nicht vermeiden können, dass das Geschehen nachhaltige Folgen für Eltern und Kinder haben kann. Frauen können bei Geburten traumatische Erfahrungen machen, auch wenn alle ihr Bestes gegeben haben. Entscheidend für alle, die in solchen Situationen agieren müssen, ist ihre innere Haltung. Sind sie, bei allem, was jetzt sehr schnell und professionell getan werden muss, empathisch und innerlich bei den Eltern? Oder läuft nur ein Notfallprogramm ab, das die so zentral wichtige Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen ausgrenzt?

Im hier beschriebenen Fall sind die Eltern schockiert, sie haben Schuldgefühle und große Angst. Die Begleitenden sprechen mit den Eltern auf Augenhöhe, sie versuchen sie zu beruhigen und ihnen alles so zu erklären, dass sie die notwendigen Schritte nachvollziehen können, um – soweit es ihnen möglich ist – damit einverstanden zu sein. Wenn es in dieser Situation Empathie und menschliche Nähe gab, dann haben die Begleitenden ihr Bestes gegeben. Und dennoch können sie den Schock höchstens ein wenig mildern.

Die Situationen, die ich in meinem Editorial vor Augen hatte, zeichnen sich dadurch aus, dass sie zum einen oft gar nicht unbedingt Notfallsituationen sind, und zum anderen dadurch, dass die Frauen mit dem Gefühl zurückbleiben, dass nicht menschenwürdig mit ihnen umgegangen wurde. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass sie nicht in Entscheidungen mit einbezogen wurden. In einer wirklichen Notfallsituation muss die informierte Entscheidung zurückstehen hinter dem primären Ziel „Leben retten“. Dann müssen bestimmte Dinge sehr schnell getan werden. Es macht jedoch einen großen Unterschied, wie das geschieht.

Auch in großer Eile gibt es Möglichkeiten, den Frauen und Eltern durch Worte, Blicke und Berührungen zu zeigen, dass wir innerlich bei ihnen sind. Es sind winzige Zeichen, die kaum Zeit kosten, die aber einen großen Unterschied machen. Dann erinnert eine Frau nicht nur, dass da eine große Gefahr war, sondern vielleicht auch einen Blick, ein Wort, eine Berührung, die ihr das Gefühl gaben, dass sie nicht verlassen war in dieser Not. Auch das können intensive Bilder sein.

In meiner Zeit im Kreißsaal habe ich immer wieder erlebt, dass Eltern dramatische Situationen nach einer bestimmten Zeit verkraften konnten, auch wenn sie sie bearbeiten mussten und dafür Gespräche mit dem Personal und anderen brauchten. Es hilft den Eltern sehr, wenn wir ihnen Zeichen der Zuwendung geben. Empathisch zu sein ist in erster Linie eine Frage der inneren Haltung und nicht der Zeit – dieses authentische Bemühen spüren die Eltern.

Angelica Ensel

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 06/2016

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