Den Fortschritt hören
Das systematische Beobachten der Gebärenden und die geburtshilfliche Zuordnung der Beobachtungen stellen eine traditionelle Form des Untersuchens dar, die Hebammen in früheren Zeiten beherrschen mussten, als vaginale Untersuchungen nach der Hebammendienstordnung für sie allenfalls in besonderen Ausnahmesituationen gestattet waren. Aber auch heute gibt es Situationen, die es erfordern, diese sehr intime Diagnostik äußerst zurückhaltend einzusetzen, wie bei einem vorzeitigen Blasensprung oder einer besonderen Empfindlichkeit der Frau. Dann bekommt die Kunst des Einfühlens und Beobachtens eine besondere Bedeutung.
Nach acht Jahren Hausgeburtsbegleitung und 16 Jahren Pause von der aktiven Geburtshilfe habe ich kürzlich wieder begonnen, im Kreißsaal einer kleinen Klinik zu arbeiten. Es gibt dort sowohl ärztlich als auch hebammengeleitete Geburten. Bei aller Sorge, ob ich den Wiedereinstieg schaffen würde, merkte ich doch schnell, dass ich zumindest in Bezug auf die Beobachtung der Gebärenden immer noch gut auf meine früheren Erfahrungen zugreifen kann. Das umfängliche Erfassen der Situation, der Stadien und der Abläufe im Körperinnern waren sehr wichtige Kompetenzen in meiner außerklinischen Geburtshilfe. Auch die vielen Jahre der intensiven Beschäftigung mit Anatomie, Physiologie und Evidenzen haben mir eine bessere Orientierung gebracht, wo die Frau steht und wie weit die Geburt fortgeschritten ist – oft auch ohne häufige vaginale Untersuchungen.
Möglichst wenig untersuchen
Jede vaginale Untersuchung stellt einen intimen Eingriff dar und erhöht das Infektionsrisiko für Mutter und Kind. Daher sollte sie so selten wie nur möglich durchgeführt werden. Viele Fortschritte in der Geburt können erfahrene Hebammen aus dem Verhalten und den Körpersymptomen der Frau oder auch dem CTG-Muster erschließen.
Unglücklicherweise sind Geburten, die mit einem vorzeitigen Blasensprung beginnen, oft mit einem langen Verlauf verbunden – und dadurch häufig mit einer hohen Anzahl an vaginalen Untersuchungen, die nicht immer nur nach strenger Indikation erfolgen. Dabei sollte gerade in diesem Fall auf eine konsequente Infektionsvorbeugung geachtet werden, um ein Amnioninfektionssyndrom zu vermeiden.
Um einschätzen zu können, ob sich der Fortschritt innerhalb der physiologische Grenzen der Geburtsphasen bewegt, genügen in der Regel in der aktiven Eröffnungsphase, also bei einer Muttermundsweite von vier bis zehn Zentimetern, Abstände von vier Stunden, in der Austreibungsphase (AP) von ein bis zwei Stunden. Je nach Standard des Hauses werden in der AP jedoch alle Frauen in kurzen Intervallen von 30 bis 60 Minuten untersucht (von Moers 2020).
Vom juristischen Standpunkt aus ist gegen häufige vaginale Untersuchungen vermutlich nichts einzuwenden – im Gegenteil wird forensisch grundsätzlich eine häufige Kontrolle der Situation eher honoriert als beanstandet. Geht die Geburt einfach langsam und ohne Komplikationen voran, beispielsweise mit großen Wehenabständen oder -pausen, reichen jedoch meist größere Abstände. Manchmal ist es auch notwendig, die Einstellung des Kindes zu überprüfen, um durch konservative Mittel wie Lagerung oder Positionswahl eine Rückkehr zur physiologischen Geburt zu fördern. Auch bei anderen Fragestellungen oder Anzeichen für eine mögliche Pathologie, wie suspekten Herztönen, einer Geburtsgeschwulst oder großer Erschöpfung der Frau mit fraglichem Geburtsstillstand, muss vielleicht häufiger untersucht werden.
Oft geht es aber eher darum sicherzustellen, dass der Muttermund vollständig eröffnet ist, oder darum, den Fortschritt anhand der Befunde kontinuierlich dokumentieren zu können. Manchmal ist das Ziel auch, noch vor der aktiven Austreibungsphase (im Weiteren »AP« oder »Schiebephase« genannt) einen Pudendusblock zu legen. Oder die Hebamme muss unbedingt rechtzeitig, aber bitte nicht zu früh, den Arzt oder die Ärztin zur Geburt rufen. Manche Kollegin lässt die Finger zuletzt über längere Zeit in der Vulva, bis das Kind sie herausschiebt. Es kommt auch vor, dass Hebammen dabei den Damm von innen her noch massieren, obwohl die Nützlichkeit dieser Methode widerlegt ist (Stamp et al. 2001). Zudem erleben die Frauen das meist eher als unangenehm – im Gegensatz zu warmen Kompressen.
Die österreichische Hebamme Elisabeth Rakos schreibt in ihrer Forschungsarbeit treffend über die vaginale untersuchung: »Dort, wo sie dazu beiträgt, ein geburtshilfliches Problem zu diagnostizieren und zu lösen, ist sie angezeigt. Dort, wo sie wiederholt und ohne medizinische Indikation zur routinemäßigen Kontrolle des Geburtsfortschritts eingesetzt wird, wirkt sie störend und sollte daher vermieden werden.« (Rakos 2017). Auch die deutsche Hebamme Franziska von Moers stellt in ihrer Bachelorarbeit die Fixierung auf die vaginale Untersuchung als wichtigste Diagnostik für den Geburtsfortschritt infrage und weist auf deren Fehleranfälligkeit hin: »Den Vorteilen der diagnostischen vaginalen Untersuchung stehen auch verschiedene Nachteile gegenüber, die zu einer Drosselung des Geburtsfortschrittes führen können. Die vaginale Untersuchung sollte demnach nur mit streng gestellter Indikation durchgeführt werden.« (von Moers 2020).
Hier ist die Erfahrung der Hebamme gefragt, die die anderen Anzeichen der verschiedenen Geburtsphasen lesen und richtig interpretieren kann.
Die Körpersprache lesen
Das wichtigste Instrument der Begleitenden, um beispielsweise das Einsetzen der letzten Geburtsphase wahrzunehmen, ist das Gehör, denn die meisten Frauen verändern ihr Atemmuster auf typische Weise. Sie beginnen, meist mit geöffnetem Mund, mit Zwerchfell und Bauchmuskulatur einen intraabdominalen Druck aufzubauen. Das hört sich wie ein verhaltenes kehliges Stöhnen an. Die für die frühe Austreibungsphase typische Erschöpfung und Verzweiflung oder Resignation weicht in dieser letzten Phase vor allem in den Wehenpausen oft einer stillen Konzentration. Den Druck des Köpfchens auf den Enddarm interpretieren die Frauen häufig als Stuhldruck und sagen das auch. Spannt der vorangehende Teil den Damm maximal, entweicht vielen Frauen auf der Spitze des Drucks ein hoher Schrei des Schreckens oder Schmerzes.
Es gibt auch deutliche visuelle Anzeichen für den Geburtsfortschritt. Oxytocin bewirkt in dieser Phase der Geburt ein Füllen der Schwellkörper und damit eine Vergrößerung der Vulva, die je nach Position der Frau zusätzlich leicht ödematös werden kann. Enddarm und After werden massiv aufgedehnt, oft entweicht ungewollt Stuhlgang, manchmal auch Urin. Der Beckenboden wird zunehmend gedehnt und schließlich millimeterdünn. Die Frau äußert dann vielleicht ein großes Spannen oder Brennen, das mit warmen Kompressen meist etwas gelindert werden kann. Sie schwankt häufig zwischen Zurückhalten und Nachgeben, Schmerzvermeiden und Weiterschieben. Aufbäumen, Zaudern, Schieben und Zurückhalten sind deutlich auch an ihrer Körpersprache abzulesen.
Manche Frauen sind aber auch sehr leise und es ist schwer zu hören, wo sie stehen. Dann hilft es beim Einschätzen, wenn meine Hand am Ende der AP sanft auf dem sichtbaren Teil des Köpfchens liegt. So kann ich auch bei Schummerlicht oder wenn ich keine Sicht auf die Vulva habe spüren, falls die Gebärende plötzlich einen starken Schub tut und ich das Köpfchen etwas bremsen muss, damit der Damm nicht unnötig reißt.
Spannung und Schmerz wahrnehmen
Hat eine Frau an dieser intimen Stelle bereits zuvor Schmerz erlebt oder empfindet sie große Schmerzen durch den Druck des Köpfchens auf das Perineum, kann sie das sehr erschrecken oder in Panik versetzen. Manchmal hält es die Gebärende ganz davon ab, weiter zu schieben, oder sie atmet das Kind eher nach draußen als es aktiv zu schieben. Fokussierte und intuitiv mit der Gebärenden verbundene Hebammen erfassen vielleicht ihre Not und greifen zu kreativen Maßnahmen, wie im folgenden Beispiel.
In einer qualitativen Untersuchung zu Betreuungsformen von Hausgeburtshebammen mit Blick auf die Prävention von Dammverletzungen erzählt eine der interviewten Hebammen von einer Drittgebärenden, die zwei Geburten mit Episiotomie erlebt hatte: »Ich war mir ihres Dammes so bewusst, dass ich die Spannung fast selbst in meinem Körper spüren konnte. Die Frau war auf ihren Händen und Knien und war wirklich sehr mitgenommen von der Übergangsphase. Ich konnte sehen, dass sie sich nicht wohl fühlte. Sie versuchte mehr oder weniger der Situation zu entfliehen. Ich schlug ihr vor, sich auf die Seite zu legen, und begann mit ihr über irgendetwas völlig anderes zu sprechen, da ich ihren Fokus vom Pressdrang wegnehmen wollte. Sie begann zu lachen und entspannte sich, bis ihr Baby geboren wurde, ohne dass sie überhaupt drückte.« (Lindgren et al. 2011).)
In Ruhe fokussieren
Die Sicherheit im Kreißsaal, bei Notfällen ohne zeitliche Verzögerung ärztliche Hilfe zu bekommen, gibt mir persönlich zwar mehr Ruhe für die Begleitung dieser Phase. Zugleich ist mir aber auch bewusst geworden, wie hilfreich die Stille und volle Konzentration auf die Gebärende für die Einschätzung der Situation waren, wie es in der Hausgeburtshilfe üblich war.
Eine der ersten Geburten, der ich vor Kurzem im Kreißsaal als Hospitantin beiwohnen durfte, war bei einer Viertgebärenden. Nachts, in völliger Stille und sehr gedämpftem Schummerlicht. Die Ärztin stand schweigend in einer Ecke des Raumes, ich stand ebenso still auf einer Seite neben dem Kreißbett, der Mann auf der anderen Seite. Die äußerst erfahrene und gelassene Hebamme, die am Fußende des Bettes saß, untersuchte nicht und sagte kein Wort. Die Frau atmete und schob ganz leise, bis das Kind vollkommen friedlich geboren war. Es war ein total unaufgeregter und in seiner Einfachheit und Stille zugleich spektakulärer Vorgang.
Zum Glück gibt es auch in der Klinik viele Momente, in denen ich als Hebamme ungestört den Körper und das Verhalten der Frau wahrnehmen und dadurch den Geburtsfortschritt einschätzen kann. So stand ich vor Kurzem dicht neben einer Zweitgebärenden, deren Muttermund nach meiner Einschätzung mittlerweile vollständig eröffnet sein musste. Ihre Fruchtblase war bei der letzten vaginalen Untersuchung sehr prall zu tasten gewesen, sodass mit einem baldigen spontanen Blasensprung zu rechnen war. Sie stützte sich auf das Kreißbett und ich hatte eine Hand auf ihrem Kreuzbein, als ich spürte, dass sich in einer Wehe plötzlich der innere Druck veränderte und eine besondere Spannung durch ihren Körper fuhr. Instinktiv trat ich sicherheitshalber einen großen Schritt zu Seite – Sekunden, bevor tatsächlich die Fruchtblase sprang und große Mengen Fruchtwasser neben mir auf den Boden klatschten. Kurz darauf setzte ein intensiver Schiebedrang bei den Kontraktionen ein und nach weiteren 20 Minuten war das Kind geboren. Es war beeindruckend, wie sich der Vorgang im Innern der Gebärenden auf die Empfindung in meiner aufgelegten Hand übertragen und mir die Information übermittelt hatte.
Was wirklich Sicherheit gibt
Ich habe nach meinem Wiedereinstieg aber auch erlebt, wie störend es sein kann, wenn in dieser Phase weitere GeburtshelferInnen hinzukommen, die vielleicht die – erwartbaren – Herztonabfälle nervös kommentieren oder sich aktiv an der Geburtsleitung beteiligen und vielleicht auch noch Unsicherheit oder Angst mit hineintragen. Solche Einflüsse können meine »Antennen« stören, die ich aus Erfahrungen und Wissen eher intuitiv nutze. Meine Wahrnehmung wird übertönt, wenn ich mich nicht ganz auf Geburtsprozess, Mutter und Kind fokussieren kann. Dabei sind das Erfassen der Körpersignale der Frau und das kognitive wie intuitive Einschätzen der Situation wichtige Voraussetzungen für eine sichere Geburtsbegleitung. Durch fraglich aussagekräftige externe Diagnostika wie das CTG sind sie nicht zu ersetzen.
Die größte Herausforderung bei meinem Wiedereinstieg in die klinische Geburtshilfe ist denn auch, die unterschiedlichen Herangehensweisen an Geburt und Betreuung, die ich außerhalb der Klinik erlernt habe und die jetzt von mir erwartet wird, unter einen Hut zu bringen. Und die Vor- und Nachteile beider Haltungen zu Geburtshilfe und Begleitung zu respektieren und in eine neue Harmonie zu bringen. Das parallele Arbeiten in einem ärztlich und einem hebammengeleiteten Kreißsaal bietet mir die beste Möglichkeit dazu.
Literatur
Franke R: Ein flexibles Partogramm? Deutsche Hebammen Zeitschrift 2020. 72 (4): 24–30
Lindgren HE, Brink Å, Klingberg-Allvin M: Fear causes tears-perineal injuries in home birth settings. A Swedish interview study. BMC Pregnancy and Childbirth 2011. 11 (1): 6
Stamp G, Kruzins G, Crowther C: Perineal massage in labour and prevention of perineal trauma: randomised controlled trial. Bmj 2001. 322(7297), 1277–1280
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