Die Welt zu Gast beim Bonding
Meine Mutter erzählte mir über die Geburt ihres ersten Kindes in den 1970er Jahren, dass sie am liebsten mit ihrem Baby direkt vom Kreißsaal auf die Straße gelaufen wäre, um voller Freude und Stolz allen ihr Kind zu zeigen. Heute wäre sie diesem Impuls wohl nachgekommen, indem sie direkt vom Geburtsort die ersten Bilder des Neugeborenen gepostet hätte. Denn längst werden auch Schwangerschaft und sogar die Geburt online zelebriert. So ließ der Musiker Robbie Williams seine Fans via Twitter live aus dem Kreißsaal an der Geburt seines zweiten Kindes in Text und Bild teilnehmen (FAZ 2014).
Druck durch Öffentlichkeit
Viele Prominente kündigen öffentlich an, wenn die Geburt losgeht. Doch auch bei „normalen" Menschen ist dieser Trend sichtbar. Wie sehr sich die öffentliche Anteilnahme durch Facebook-Likes, Kommentare oder stetige WhatsApp-Nachrichten tatsächlich auf den Geburtsverlauf auswirkt, ist noch nicht absehbar. Aber wahrscheinlich wird es sich eher hemmend auswirken. So schrieb schon der französische Geburtshelfer Michel Odent: „Es verdient Beachtung, dass gerade in den Kulturen, in denen Frauen sich zum Gebären zurückziehen, die Entbindungen als einfach gelten." (Odent 1994) Die Frau braucht die von Odent gepriesene Ungestörtheit unter der Geburt, um sich wirklich einlassen und schließlich loslassen zu können. Auch wenn im Geburtsraum selbst vielleicht nur der Partner und die Hebamme anwesend sind, werden durch öffentliche Ankündigungen weitere Personen virtuell mit hineingenommen.
Oft stehen Frauen schon durch immer wieder fragende Familienmitglieder und Freunde unter dem Erfolgsdruck, möglichst bald die gute Nachricht von der idealerweise komplikationslosen Geburt des Kindes zu verkünden. Wie ist es da erst, wenn Tausende oder gar Millionen von Fans und Followern scheinbar mit teilnehmen am Geburtsgeschehen? Stört es den Geburtsverlauf, wenn der werdende Vater „Zwischenstände" online teilt, statt sich auf das Hier und Jetzt dieses sensiblen Prozesses konzentrieren zu können? Und was macht es mit dem ebenfalls sehr empfindlichen Bindungsprozess zwischen Mutter und Kind, wenn in den ersten Stunden nicht nur das Kind selbst gestillt werden muss, sondern auch noch die Neugier der Online-Community? Bisher sind mögliche negative Auswirkungen nur beschrieben, aber nicht wissenschaftlich belegt.
Hebamme als Vorbild
Längst wissen wir, wie störanfällig Geburts- und Bindungsprozesse sind. Die Anwesenheit vieler Menschen, ständiges Öffnen der Tür und Ablenkungen, die den Neocortex ansprechen, behindern die Mütter dabei, sich in die natürlichen Abläufe hineinfallen zu lassen. Smartphones bieten noch mehr Möglichkeiten, Mutter und Kind immer wieder aus ihrem individuellen Rhythmus zu bringen.
Die Privacy müsste dabei auch vom Kreißsaal-Personal vorgelebt werden. Das heißt, dass nicht mal „eben schnell" noch eine notwendige Unterschrift von der Mutter eingeholt oder nebenher ein Schrank mit Sterilgut aufgefüllt wird. Und dass Hebamme oder Arzt möglichst nicht im Geburtsraum telefonieren. Doch das scheitert häufig am unzureichenden Personalschlüssel. Wenn eine Hebamme zwischen drei Geburten gleichzeitig hin und her pendelt, lassen sich häufige Störungen der Gebärenden kaum vermeiden.
Wenn den Eltern aber die gewünschte Ruhe und Achtsamkeit vorgelebt werden würde, wäre es wohl einfacher, sie zu überzeugen, im Geburtsraum auf das Smartphone zu verzichten. Denn generelle Verbote lassen sich nur schwer durchsetzen und erreichen meist auch nicht das, was eigentlich gewünscht ist. Nämlich dass Geburt, Bonding und Stillen mit der dafür erforderlichen Aufmerksamkeit stattfinden. Es ist sicherlich sinnvoll, dieses Thema bereits im Geburtsvorbereitungskurs und am Informationsabend in der Klinik anzusprechen. Gleichzeitig vermittelt aber der Fernseher im Zimmer auf der Wochenbettstation schon wieder eine andere Botschaft.
Die Bondingphase unmittelbar nach der Geburt stellt noch mal eine ganz besondere Situation dar, für die man nur das Verständnis der Eltern gewinnen kann, es hier zu möglichst wenigen Störungen kommen zu lassen.
Stillen mit Smartphone
Der Umgang mit dem Smartphone stellt auch im Wochenbett und in der anschließenden Elternzeit eine Herausforderung dar. Mit der rasanten technischen Entwicklung haben die heutigen Eltern kaum Vorbilder in diesem Bereich. Es gibt dazu nur wenige Untersuchungen und Meinungen von ExpertInnen. Die Eltern müssen ihre eigenen Wege erschließen, verantwortungsvoll mit dem Medienkonsum umzugehen.
Der Smartphone-Gebrauch ist aktuell gerade beim Stillen für viele Mütter eine Selbstverständlichkeit, die von Fachleuten nicht unkritisch gesehen wird. Mütter mit Stillproblemen sollten sich immer auf ein gutes Anlegen konzentrieren, wobei einige auch angeben, dass ihnen die Ablenkung durch das Smartphone helfe, wenn das Stillen Schmerzen verursache, weil der Heilungsprozess einer verletzten Mamille vielleicht noch nicht abgeschlossen ist. So sehr dieser Gedanke nachvollziehbar ist, führt gerade bei bereits vorhandenen Verletzungen das „unkonzentrierte Stillen" zu Anlegefehlern, die die Ursache der Schmerzen begünstigen.
Und was ist mit den Frauen, denen das Stillen unkompliziert und schmerzfrei gelingt, die aber im Leben mit einem Neugeborenen viele Stunden am Smartphone verbringen? Anfangs können sich die meisten Mütter gar nicht sattsehen an ihrem wundervollen Kind. Aber nach ein paar Tagen oder Wochen geben manche auch „Langeweile beim Stillen" an, gerade dann, wenn das Kind scheinbar völlig zufrieden mit geschlossenen Augen lange an der Brust trinkt und vermeintlich wenig Interaktion stattfindet. Viele Mütter haben in diesen Stillzeiten ganze Romane gelesen. Ist der Gebrauch des Smartphones, womit nicht das Lesen eines E-Books gemeint ist, nicht mit dem Lesen gleichzusetzen?
Nein, denn ein Monitor mit bewegten Bildern zieht einen Menschen in der Regel tiefer in seinen Bann. Doch gerade in der ersten Babyzeit brauchen Mütter ihre ganze Aufmerksamkeit, um die Feinzeichen ihrer Kinder lesen zu lernen. Babys signalisieren Müdigkeit oder Hunger nicht allein durch lautes Weinen. Dem gehen viele kleine Signale voran, die nur von jenen wahrgenommen werden, die eine gewisse Achtsamkeit dafür aufbringen.
Das Smartphone hat einen höheren Aufforderungscharakter, etwas anderes tun zu müssen, als hier und jetzt beim eigenen Kind zu sein. Vielleicht ist es das Telefonat oder es sind die E-Mails, die beantwortet werden „müssen". Akustische und optische Signale verstärken dies zusätzlich. Der Stressfaktor ist also wesentlich höher als beim Lesen eines Buches.
Zu den Gefahren durch die Strahlung eines Smartphones gibt es keine konkreten Empfehlungen, auch weil in diesem Bereich Langzeitstudien fehlen. Eine im Mai 2016 im Journal of Epidemiology & Community Health veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass ein erhöhtes Risiko von emotionalen Auffälligkeiten und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern womöglich mit dem prä- und postnatalen Smartphone-Gebrauch der Mütter in Zusammenhang zu bringen ist (Sudan et al. 2016). Diese Erkenntnisse decken sich mit früheren Studien zum Thema.
Suche nach Kontakt
Warum ist das Smartphone überhaupt so wichtig für junge Mütter? Viele sind in Elternzeit und benötigen es also nicht, um berufliche Belange abzuarbeiten. Die meisten Mütter kommen ihrem Informationsbedürfnis nach. Der wichtigste Punkt für viele ist die Suche nach Kontakt mit Personen in einer ähnlichen Lebenslage. Die wenigsten Menschen sind für das heutige, meist in Kleinfamilien stattfindende Leben geschaffen. Mit einem Baby verkleinert sich zudem häufig zunächst der Radius, in dem man sich bewegt. Auch Zeiten, in denen man früher Freunde getroffen hat, sind auf einmal von neuen Aufgaben belegt. Oder man ist am Abend einfach zu müde, um sich noch mit jemandem zu treffen. Gleichzeitig ändert sich das Leben in dieser Phase so intensiv wie nie zuvor.
Eltern möchten ihre Sorgen und Ängste, aber auch ihr Glück mit anderen teilen. Sie möchten ihre mögliche Verunsicherung abbauen, indem sie von anderen hören, dass es ihnen genauso oder ähnlich geht. Dafür bietet das Internet scheinbar alle Möglichkeiten. Man findet auf jede Frage eine Antwort und für jedes Thema eine spezifische Gruppe mit Gleichgesinnten. Der Online-Elternclan ersetzt die fehlende Großfamilie (Mierau 2014).
Rückversicherung
Früher wie heute brauchen Menschen immer echte Verbindungen, die der Online-Elternclan nicht ersetzt – aber diese können daraus entstehen. Ein generelles Ablehnen oder Verteufeln des Mediengebrauches junger Mütter führt daher sicherlich nicht zum Ziel. Zuhören, um zu verstehen, was das wirkliche Bedürfnis dahinter ist, sollte ein erster Schritt zur Lösungsfindung sein, wenn ein zu hoher Mediengebrauch zum Problem wird. Denn früher wie heute gilt, dass auch die Mutter sich gesehen und geborgen fühlen muss, um dies an ihr Kind weitergeben zu können.
Stillhilfen
Apps unterstützen Erstlingsmütter
ForscherInnen haben herausgefunden, dass soziale Medien und die gegenseitige Unterstützung jungen Müttern helfen, sich für das Stillen zu entscheiden und dann auch dabei zu bleiben.
Eine Pilotstudie zeigte, dass eine Smartphone-App, die helfende Texte an die Mütter versendet und ein Forum für den Austausch bietet, die Rate stillender Mütter signifikant steigen ließ. Die teilnehmenden Frauen begannen sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, mit der App zu interagieren, und nutzten sie ebenso lange nach der Geburt ihres Kindes. Sie erhielten fünf bis sieben Erinnerungsnachrichten pro Woche.
Ein Viertel dieser Nachrichten erfragte Informationen von den Teilnehmerinnen, so dass diese aufgefordert waren zu antworten. Dabei ging es um Fragen nach der Häufigkeit des Stuhlgangs beim Baby, um ausschließliches Stillen in den ersten fünf Lebensmonaten und das Wissen über das bessere Outcome von gestillten Kindern hinsichtlich des gesunden Körpergewichts später im Leben.
Die App war auch zu einer geschlossenen Facebook-Seite verlinkt, wo Videos, informative Links und Kommentare gepostet werden konnten. Wissensfragen wurden von der Kinderärztin Maya Bunik beantwortet. Sie ist die Studienleiterin und Autorin des Buches „Breastfeeding Telephone Triage and Advice" der American Academy of Pediatrics (AAP).
95 Prozent der Nutzerinnen der App stillten nach drei Monaten ihre Kinder noch, im Vergleich zu 83 Prozent in der Kontrollgruppe. Die gleiche Anzahl Frauen fütterte in mehr als 80 Prozent der Zeit Brustmilch im Vergleich zu 78 Prozent der Frauen in der anderen Gruppe, die die App nicht nutzte.
Die Teilnehmerinnen, welche die App nutzten, gaben eine größere Zufriedenheit mit ihrem Stillerleben an. Sie waren sicherer, dass ihre Kinder genügend Milch tranken, und kamen besser mit den Herausforderungen des Stillens zurecht. Maya Bunik und ihre KollegInnen planen nun eine ausführlichere Studie.
(Bunik M. et al: Mothers‘ Milk Messaging (MMM): A Pilot Study of an App to Support Breastfeeding in First Time Mothers. University of Colorado, Aurora, CO; ACCORDS, University of Colorado, Aurora, CO; Public Health, University of Colorado, Aurora, CO. www.abstracts2view.com/pas/view.php?nu=PAS16L1_2863.475)
Literatur
Frankfurter Allgemeine Zeitung: Schabernack im Kreißsaal. 28.10.2014. www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/robbie-williams-twittert-zur-geburt-seines-kindes-13234120.html (letzter Zugriff: 5.9.2016)
Mierau S: Der Online-Elternclan. Unerzogen-Magazin 2014
Odent M: Geburt und Stillen. Verlag C.H. Beck. München 1994
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