Gemeinsame Erfolge machen Mut
Oft hört man bei Verbesserungsvorschlägen die abwehrende Antwort: »Interessanter Ansatz, das geht bei uns im Kreißsaal aber nicht.« Kreißsaalteams fällt es oft schwer, bereitwillig und mit Freude Veränderungen zur gemeinsamen Weiterentwicklung anzugehen. Nur Mut, denn Erkenntnisse aus der Psychologie und den Neurowissenschaften machen Hoffnung, dass das Erreichen von Zielen mit dem richtigen strategischen Vorgehen sehr wahrscheinlich gelingt. Die Anstrengung wird zudem belohnt, denn neurobiologische Mechanismen führen durch den Erfolg, der durch das Erreichen von gesetzten Zielen entsteht, zur Ausschüttung eines Hormoncocktails, der uns Freude und Euphorie fühlen lässt (Hüther et al. 2021).
Herausgebildet hat sich dieser Mechanismus wohl auch, damit wir Lust bekommen, dort anzuknüpfen, wo uns bereits etwas gelungen ist. An Erfolg schließt sich also weitere Motivation an, die uns dazu veranlasst, Ideen und Handlungsimpulse auch tatsächlich umzusetzen. Darüber hinaus bringen die freigesetzten Botenstoffe der Hormone auch Nervenzellen dazu, sich weiter zu verknüpfen und bestehende neuronale Netzwerke zu stabilisieren. Deshalb orientiert sich unser Gehirn an den Erfolgen und Lösungen, die wir im Laufe unseres Lebens erfahren haben, und verankert diese besonders fest (ebd.).
Muster des Gelingens
Es lohnt sich zu reflektieren, was in der Vergangenheit schon erfolgreich umgesetzt wurde (Kompetenzvergangenheit), diese Erfolgserlebnisse zu sammeln und allen vor Augen zu halten. Die sogenannten »Muster des Gelingens« entstammen dem hypnosystemischen Ansatz von Gunter Schmidt, Mediziner mit dem Schwerpunkt Psychotherapie (Schmidt 2005).
Dabei geht es darum, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, was schon gelingt. Denn sind die Teammitglieder mit ihrer Aufmerksamkeit hauptsächlich bei den Dingen, die (noch) nicht funktionieren, entstehen keine Lösungen, sondern sogenannte Problemtrancen. Diese wiederum verlangsamen oder verhindern die Weiterentwicklung eines Teams oder einer gesamten Organisation. Die Motivation dieses Ansatzes ist jedoch nicht, Probleme zu bagatellisieren. Sondern es geht darum, durch ein gesteuertes Vorgehen die Problemmuster den Kompetenzmustern gegenüberzustellen. So wird ein Kontrast ermöglicht, der auch die Problemvergangenheit würdigt und wichtige Erkenntnisse für den Lösungsansatz ermöglicht (ebd.).
Visionen und Ziele
Was ist die Vision für die eigene Hebammenarbeit? Was ist die gemeinsame Vision im Kreißsaalteam, welche Ziele werden mit welchem Sinn dahinter verfolgt? Ziele, die im Arbeitskontext verfolgt werden sollen, sollten gesammelt werden. Bei jedem Ziel wird sich folgende Frage gestellt: »Wofür ist das wichtig?« Hier können möglicherweise erste Hinweise auf die Vision des Teams erkennbar sein. Dadurch wird deutlich, wofür die gesteckten Ziele sinnvoll sind.
Arbeitshinderliche Rahmenbedingungen, wie beispielsweise Personalmangel und Belastungserleben können die Sicht vernebeln und Gedanken an gemeinschaftliche Projekte weit entfernt erscheinen lassen. Dann braucht es Mut, Optimismus und Vorstellungskraft, um daran zu glauben, dass eine realistische Chance besteht, die Arbeitsbedingungen in Kliniken mitzugestalten. So scheint alles oft fremdbestimmt und Entscheidungen in Stein gemeißelt. Doch es zeigt sich, wenn Mitglieder eines Teams bereit sind, »ihr unterschiedliches Wissen und Können ohne Vorbehalte und Eigeninteressen zusammenzuführen, um einen Traum gemeinsam zu verwirklichen, erwächst in solchen Teams eine außergewöhnliche Kraft.« (Hüther et al. 2021, 13).
Wenn ein Wunsch nach Veränderung laut wird, hat das meist damit zu tun, dass vergangene Lösungen nicht mehr den Anforderungen der Gegenwart und Zukunft entsprechen (Starker & Peschke 2017). Hebammen gaben im Rahmen einer Befragung an, eine Soll-Ist-Diskrepanz zwischen ihren individuellen Ansprüchen an eine adäquate Hebammentätigkeit und der erlebten Realität im klinischen Setting zu erleben, die sie als schwerwiegende Belastung identifizierten (Mittelstädt 2020).
Man kann sich gemeinsam im Team fragen: »Wofür treten wir hier an?« und »Wie kann unser Arbeitsplatz im Optimalzustand sein?« Ins Gespräch kommen und alle Gedanken zulassen, kann ein erster Schritt in Richtung Zielfindung und Visionsentwicklung eines Kreißsaal-Teams sein.
Soziale Grundbedürfnisse
Wenn ein gemeinsames Ziel erarbeitet wurde, macht es in der Vorbereitung auf die Umsetzung Sinn, kurz in die sozialen Grundbedürfnisse unseres Gehirns einzutauchen. Denn möglicherweise nehmen wir bei uns selbst oder bei Kolleg:innen noch Widerstände, Vorbehalte oder Störgefühle wahr. Man kann die sozialen Grundbedürfnisse als eine Art erstes diagnostisches Werkzeug verstehen und sie sowohl bei uns selbst als auch bei Menschen im Umfeld auf Erfüllung überprüfen. Denn wenn sie erfüllt sind, ist es möglich, in einen Zustand zu gelangen, der geprägt ist von Entspannung, Wohlwollen, Kooperations- und Lernbereitschaft. Nur wer in diesem Zustand ist, hat die Möglichkeit zur Entfaltung seines Potenzials, zur Reflexion eigenen Handelns und zur Weiterentwicklung.
SCARF – soziale Grundbedürfnisse des Gehirns
S – Status: die eigene Wichtigkeit in Bezug auf Andere
C – Certainty/Sicherheit: die Vorhersagbarkeit der (nahen) Zukunft
A – Autonomie: die Möglichkeit zur Mitgestaltung
R – Relatedness/Verbundenheit: die Beziehung zu Anderen
F – Fairness: die Wahrnehmung von fairem Austausch zwischen Personen.
Quelle: Rock 2011
Umgekehrt können uns diese sogenannten SCARF-Faktoren (siehe Kasten) Hinweise geben, auf welcher Ebene eventuell eine Störung vorliegt. Das Erkennen von Störpotenzial macht ein gezieltes und lösungsorientiertes Handeln erst möglich. Es zielt auf eine Balance der Faktoren ab, um in einen entspannten und arbeitsfähigen Zustand zu gelangen.
Die Common-Ground-Methode
Die Common-Ground-Methode als ein Modell für Teamdiagnostik und -entwicklung beschreibt mit ihren acht beziehungsweise neun Faktoren im modifizierten Modell nach Sonja Deutschmann erfolgsrelevante Faktoren, die eine tragfähige, vertrauensvolle, wertschätzende und lebendige Zusammenarbeit auszeichnet (Deutschmann 2020).
Der partizipative Ansatz, in dem alle Mitglieder eines Teams beteiligt werden, geht davon aus, dass die Common-Ground-Faktoren wie ein Fundament oder eine Basis wirken. Um das gesamte Potenzial eines Teams ausschöpfen zu können, ist die stabile Basis (also das Einbeziehen der genannten Faktoren) die Grundvoraussetzung und der fruchtbare Boden für den Erfolg, um gemeinsame Ziele und Visionen zu erreichen.
Das Common-Ground-Modell modifiziert nach Deutschmann
In der Praxis braucht es einerseits ein vorhandenes, konkretes und gemeinsames Ziel – beispielsweise die Implementierung eines Hebammenkreißsaales, die Einführung eines Rotationssystems, die Erarbeitung von Konzepten, die Dienstplangestaltung oder Einführung von Fallbesprechungen. Zum anderen wird der Fokus und das Bewusstsein über die Existenz der folgenden Erfolgsfaktoren benötigt:
- Ziele: Sind die Ziele allen bekannt und verständlich?
- Informationsstand: Haben alle den gleichen Informationsstand über das zu erreichende gemeinsame Ziel?
- Gemeinsame Realität: Haben wir eine gemeinsame Sicht auf die vorhandene Realität?
- Kommunikationskultur: Gibt es eine offene und ehrliche Kommunikation?
- Eigene Rolle: Ist die eigene Rolle klar?
- Wir-Gefühl: Gibt es im Team ein Wir-Gefühl? Sind gemeinsame Werte, Rituale und Regeln vorhanden?
- Wertschätzung: Gibt es Wertschätzung? (Lob, Feedback, Entwicklungsmöglichkeiten, Honorierung)
- Commitment: Können sich alle dem Team gegenüber verpflichten?
- (Mit-)Gestaltung: Welchen Anteil kann ich persönlich leisten?
(Modifiziertes Modell nach Sonja Deutschmann unter Einbezug der SCARF Faktoren)
Als Voraussetzung für die Anwendung der Methode müssen sich alle Teammitglieder bewusst machen, dass neben Auseinandersetzungen auch Dialoge untereinander und das Beleuchten der jeweiligen Themen aus verschiedenen Perspektiven nötig sind (Schwinge et al. 2016). Ebenso gilt es, die eigenen Annahmen und Überzeugungen zu identifizieren und kritisch zu prüfen.
Umsetzung der Methode
Für die Umsetzung kann ein eigener Fragebogen erstellt oder die Vorlage benutzt werden (die Fragebogen-Vorlage und eine Schritt-für-Schritt-Anleitung steht Ihnen unter diesem Artikel zur Verfügung). Der Bogen wird von allen Teammitgliedern anonym ausgefüllt. Die Ergebnisse können auf eine Metaplanwand oder ein Flipchart übertragen werden. Das geht auch digital, zum Beispiel mit Miro oder der Whiteboard Funktion von Zoom.
Nach der Darstellung der Ergebnisse im Team und der gemeinsamen Analyse der Common-Ground-Faktoren entscheidet das Team eigenverantwortlich, an welchen Themen es zuerst arbeiten möchte. Hierbei ist es wichtig, auf die Rahmenfaktoren zu achten und den Kontext mit einzubeziehen – beispielsweise die Gruppengröße, fehlende Personen, wie viel Zeit seit dem letzten Treffen vergangen ist, neue Teammitglieder – und ob alle die Chance hatten teilzunehmen.
Die Leitfragen
Hat sich das Team durch eine zweite anonyme Umfrage für drei Common-Ground-Faktoren mit Handlungsbedarf entschieden, werden Kleingruppen mit drei bis sechs Mitgliedern gebildet. Diese nehmen sich eigenverantwortlich und in einer festgelegten Zeitspanne jeweils eines Themas an. Jede Kleingruppe darf sich zu ihrem Thema folgende Leitfragen stellen:
- Was läuft schon gut?
- Was müssten wir tun, um das Thema »an die Wand zu fahren«?
- Was können wir (auch ich) tun, um einen kleinen Schritt nach vorn zu kommen?
In einem nächsten Treffen stellen die Kleingruppen ihre Ergebnisse in der Teamrunde vor. Es folgt eine gemeinsame Entscheidung über weitere Schritte: »Wer kümmert sich um was?«, »Was wollen wir als Experiment für uns ausprobieren?«
Schätzen Team und Führungskraft die Common-Ground-Faktoren als sehr hoch ausgeprägt ein, bedeutet dies, dass nun eine stabile Basis für den nächsten Schritt vorliegt: das Angehen der sogenannten ökonomischen Prozesse. Mit dem eigentlichen Ziel vor Augen darf das Team sich fragen, welche Möglichkeiten bestehen, um es erreichen zu können. Hier können beispielsweise in Form von Brainstorming die Erfahrungen und die Ideen aller Beteiligten gehört und gesammelt werden. Es wird innovativ und es darf alles auf den Tisch kommen.
Die Frage der Machbarkeit schließt sich daran an. Sie zielt auf die Möglichkeiten und bettet diese in den individuellen Arbeitskontext ein: Finanzierung, Fördermöglichkeiten, (personelle) Ressourcen, Rahmenbedingungen und so weiter. Hier zeigt sich direkt, wie realistisch die gesammelten Möglichkeiten dem Team erscheinen. Die folgende sogenannte koordinierte Aktion beinhaltet konkrete Schritte, die sich auf mehrere Schultern verteilen lassen. Dieser Plan orientiert sich an Ressourcen, Stärken, Neigungen, Interessen und Potenzialen im Team und in der Organisation. Fehlt dieser Punkt, kommt es möglicherweise zur Stagnation des Projektes oder zu wildem Aktionismus der Beteiligten.
Mit der Strategie wird schließlich ein strukturiertes Vorgehen geplant, das in einen zeitlichen Rahmen überführt wird. Würde man die ökonomischen Prozesse ohne die Common-Ground-Faktoren beginnen, wäre die Wahrscheinlichkeit höher, das geplante Ziel nicht zu erreichen. Daher ist zu empfehlen, mit der Basis zu starten – mit den Common-Ground-Faktoren.
Der transparente Umgang im Team damit, welche Faktoren berücksichtigt werden dürfen und wofür dies wichtig ist, ermöglicht eine offene und gleichberechtigte Teilhabe an dem vom Team gewählten Ziel. Die Möglichkeit eines jeden Teammitgliedes, sich einzubringen und persönliche Aspekte zu äußern, schafft Augenhöhe und lässt durch die anonymisierte Abfrage auch zurückhaltendere Teammitglieder zu Wort kommen. So werden auch vermeintlich unsagbare Themen, die »in der Luft liegen«, besprechbar gemacht und Konfliktpotenzial wird reduziert. Dieser partizipative Prozess verspricht einen hohen Erfolg für das Erreichen des Ziels und bringt automatisch die verschiedenen Realitäten und Annahmen der Beteiligten mit ein.
Fazit
»Alle tiefgreifenden Veränderungen, so scheint es, beginnen damit, dass jemand den Mut hat, sich vorzustellen, dass es auch anders sein kann.« (Hüther et al. 2021)
Wir als Coaches möchten dazu ermutigen, die vielfältigen Kompetenzen zielgerichtet für die individuellen Kreißsaalziele und -visionen einzusetzen. Die oft hohe Diversität im Team kann dafür genutzt werden. Denn in solchen Teams herrschen besonders günstige Bedingungen für die Entfaltung von individuellen und gemeinschaftlichen Potenzialen. Hier liegt die Chance für ungeahnte Lösungsmöglichkeiten in einer Kreißsaalrealität, die oft als nur schwer mitgestaltbar wahrgenommen wird. Und wenn das erste Ziel erreicht wurde, sorgt unser Gehirn dafür, dass wir Lust auf weitere Erfolge haben. Das führt zu erlebter Selbstwirksamkeit, Freude und Stolz auf das Erreichte.
Hinweis
Kostenlose Q&A-Session:
Common-Ground-Methode
Am 27. Oktober 2021 veranstaltet der Elwin Staude Verlag mit den Autorinnen des Artikels von 10 bis 11 Uhr ein kostenloses Question & Answer-Seminar zur Common-Ground-Methode. Die Anmeldung läuft über die Staude Akademie > https://www.staude-akademie.de/.
Literatur
Deutschmann S: Gehirngerechte Erfolgsfaktoren im Team. Common Ground trifft SCARF. Teamcoaching und -diagnostik. Train the Coach – Skript Interventionen. Unveröffentlichte Lehrunterlagen. Institut Dr. Sonja Deutschmann GmbH. Brühl 2020
Hüther G, Müller SO, Bauer N: Dream-Team. Warum wir nur gemeinsam unser Potenzial entfalten und unsere Zukunft gestalten können. 1. Auflage. Wilhelm Goldmann Verlag. München 2021
Mittelstädt J: Warum Klinikhebammen kündigen. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2020. 72 (9): 86–92
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