Leseprobe: DHZ 12/2021

Hat es Hunger?

Wenn ein Baby über Wochen etwas zu wenig Nahrung zu sich nimmt, ist dieser leichte Fastenzustand oft nicht einfach zu erkennen, manchmal jedoch ein Grund für Unruhe. Die Ursachen für sehr viel Weinen sind auf körperlicher und emotionaler Ebene zu suchen. Fachkräften wird dringend empfohlen, den Gewichtsverlauf des Kindes genau zu erfassen, sein Verhalten zu interpretieren und die Gewichtskurve persönlich zu beurteilen. Márta Guóth-Gumberger,
  • Ein leichter Fastenzustand des Kindes kann auf die Dauer zu großer Unruhe führen. Um dies zu vermeiden, sollten Expert:innen die Gewichtskurven im Blick behalten.

Wenn man von einem »unruhigen Kind« spricht, blickt man auf das Baby und sucht die Ursachen vor allem bei ihm. In Wirklichkeit geht es um die Unruhe in der Familie. Unruhig ist das Kind aus dem Blickwinkel der Eltern. Es gibt allerdings Situationen, wo es für Eltern eine große Herausforderung ist, ihr Baby zu begleiten. Sie stellen fest, es wirkt selten zufrieden und weint häufig. Den Eltern gelingt es nicht, ihm zu helfen zur Ruhe zu kommen, es möchte sehr häufig oder lange gestillt werden oder beides.

 

Was erzählt das Kind?

 

»Unruhe« ist ein verneinender Begriff. Es geht um den Wunsch nach mehr Ruhe und weniger häufige oder nicht so starke Bedürfnisäußerungen des Babys. »Unruhiges Kind« bedeutet positiv formuliert, dass das Baby häufig und immer wieder Signale aussendet. Die Eltern versuchen, diese zu entschlüsseln und darauf einzugehen, erleben aber starke Anspannung und Stress. Wie sich die Eltern dabei fühlen, ist auch von ihrer eigenen Geschichte und ihren Vorerfahrungen geprägt.

Die Frage ist: Was will das Baby erzählen? Weinen ist eine wichtige Ausdrucksmöglichkeit, die Lautstärke erreicht die Umwelt. Weinen drückt immer etwas aus.

Sicher hat das Baby beim Weinen nicht die Absicht, ein Gefühl beim Erwachsenen auszulösen, Mutter oder Vater »zu ärgern«, »zu manipulieren«, »zur Weißglut zu bringen«, »an der Nase herumzuführen« oder »zu kontrollieren«. Dazu ist es nicht in der Lage. Der entsprechende soziale Entwicklungsschritt – »Theory of Mind« genannt – erscheint spontan frühestens ab dem Alter von vier Jahren (Henzinger 2017, 118). »Theory of Mind« bedeutet die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zum bewussten Nachvollziehen von Gefühlen anderer.

 

Körperliche oder emotionale Botschaften

 

Wenn das Baby nicht in der Lage ist, die Eltern absichtlich in Stress zu versetzen, was will es dann erzählen? Seine Botschaft kann zwei Quellen haben, nämlich vorrangig körperliche oder emotionale Ursachen oder auch eine Mischung von beiden.

Botschaften, die auf eine körperliche Ursache hinweisen, haben Priorität. Es ist notwendig und sinnvoll, sie zuerst zu überprüfen. Hat das Kind Schmerzen? Das können akute alltägliche Krankheiten wie Ohrenschmerzen sein, aber auch ganz lapidar eine volle oder zu eng verschlossene Windel. W-LAN oder Mobilfunkgeräte in der Nähe können ein sensibles Baby beeinträchtigen. Manchmal ist anhaltendes Weinen ein erster Hinweis auf eine seltene Krankheit (siehe Seite 32ff.). Und schließlich kann viel Weinen auch signalisieren, dass das Kind in den letzten Wochen weniger Nahrung aufnehmen konnte, als es seinem inneren Bauplan und dem Bedürfnis sich wohlzufühlen entspricht.

Auf der emotionalen Ebene kann deutliches Weinen schlicht das altersgemäße Bedürfnis des Babys nach viel Körperkontakt signalisieren, beispielsweise wenn die Eltern sich vorstellen, es müsste allein im Bett liegen und einschlafen können.

Manchmal reagiert ein Baby auf die Überlastung der Mutter, wenn sie mehr Unterstützung in der Familie und im Umkreis bräuchte. Weinen kann auch die Reaktion auf eine Trennung von der Mutter sein. Es kann das Bedürfnis ausdrücken, dass das Baby von den pränatalen Erlebnissen während der Schwangerschaft und den perinatalen Erfahrungen während der Geburt erzählen möchte (siehe Seite 8ff.).

Bei Babys, die über Wochen Hunger erleben, der nicht befriedigt wird, gibt es zwei mögliche Reaktionen (siehe Abbildungen 1 und 2): Entweder weinen sie sehr viel oder sie entwickeln als Überlebensstrategie einen Rückzug, gehen »auf Sparflamme«, reduzieren alles, was Energie verbraucht, und werden außerordentlich »pflegeleicht« und »anspruchslos«. Letzteres ist außerordentlich alarmierend.

Gewichtskurven: © Márta Guóth-Gumberger

Abbildung 1: Gewichtskurve eines Mädchens, bis 5 Wochen ausschließlich
gestillt, auf Anraten der Hebamme Abstände von 3–4 Stunden und eine
Nachtpause von 8 Stunden eingehalten; mit 5 Wochen lag das Baby 250 g
unter dem Geburtsgewicht; der Kinderarzt forderte sofortige Zufütterung;
Aufholwachstum mit 100 % Zufütterung von Pre-Nahrung; nur noch minimales
Stillen möglich, das Baby bevorzugt die Flasche; weitere Ursachen wurden
nicht abgeklärt. Das Weinen bei einer solchen Gedeihstörung ist ein
berechtigtes Signal des Babys, dass es dringend Hilfe benötigt.


Abbildung 2: Gewichtskurve eines Jungen, suboptimales Wachstum, die Kurve
kreuzt von P70 auf P45. Weinen bei suboptimalem Wachstum deutet auf einen
leichten Fastenzustand über Wochen hin, auch wenn das Gewicht im »Mittelfeld
« liegt und das Baby gut genährt ausschaut. Solches Weinen ist ein wichtiges
Signal des Babys. Unterstützende Maßnahmen sind dringend erforderlich,
beispielsweise eine höhere Stillhäufigkeit und Weglassen des Schnullers.


Wenn solch »pflegeleichte« Babys ein größeres Nahrungsangebot erhalten – und dies auch annehmen können, was nicht selbstverständlich und nicht immer gegeben ist, reagieren sie typischerweise mit mehr Weinen. Das ist in diesem Fall ein positiver Schritt, ein Schritt aus der Überlebensstrategie, dem Coping, heraus (Henzinger 2017, 224). Andere können das Nahrungsangebot langfristig nicht annehmen – und das führt leider zu einer langfristigen Beeinträchtigung.

 

Unterstützung für Eltern

 

Wenn das Ausmaß des Weinens die Möglichkeiten der Eltern übersteigt, suchen sie nach Unterstützungsangeboten. In verschiedenen Elternratgebern und Fachbüchern wird das Thema Babyweinen aufgegriffen, der Hinweis auf eine differenzierte Betrachtung des Gewichtsverlaufs fehlt jedoch. Auch bei beratenden und therapeutischen Angeboten für Familien zum Thema Weinen, beispielsweise sogenannten Schreiambulanzen, werden Ernährungsstatus und Gewichtsverlauf nicht routinemäßig differenziert angeschaut.

Falls eine abfallende Gewichtskurve übersehen wurde, ist das zu erwartende Ergebnis ein eher früheres Zufüttern oder Abstillen, vielleicht bereits nach wenigen Wochen. Womöglich wird dies in der Dokumentation nicht mehr erfasst. Man könnte fragen, was ist daran so schlimm? Denn ein solches Vorgehen mag immer wieder »funktionieren«. Gleichzeitig wurden jedoch die Signale des Babys, das über Wochen in einem leichten Fastenzustand war, nicht angemessen gehört. Dies bleibt unter Umständen als Prägung für das spätere Leben.

Manche der auf Weinen spezialisierten Fachkräfte verlassen sich auf die pädiatrische Einschätzung oder die der Hebamme: »Alles ist in Ordnung mit dem Gewicht.« Dabei ist es möglich, dass solche Phasen eines leichten Fastenzustands nicht erkannt wurden. Ziel der pädiatrischen Gewichtsbeurteilung ist nämlich der Schutz der Gesundheit und der Entwicklung, nicht der Erhalt des Stillens und die Feinheiten des Ernährungsstatus.

Mit der Rückmeldung der Hebammen oder Pädiater:innen als Absicherung wird dann bei intensivem Weinen häufiges Stillen oder Flaschegeben leicht als »kompensatorisches« Stillen oder Füttern eingestuft. Damit ist gemeint, dass die Eltern auf ein emotionales Bedürfnis des Babys nicht auf der emotionalen Ebene eingehen, sondern mit einem Nahrungsangebot. Es wird dann empfohlen, die Abstände zwischen den Mahlzeiten zu vergrößern.

Die Einschätzung »kompensatorisches Stillen« darf nur gegeben werden, wenn der vollständige Gewichtsverlauf des Babys in einer Gewichtskurve erfasst und ausgewertet wurde und eine Phase eines »leichten Fastenzustands« mit Sicherheit ausgeschlossen worden ist (siehe Abbildung 2). Kompensatorisches Füttern existiert – ein Beispiel ist in Abbildung 3 zu sehen: zu starke Zunahme mit Folgenahrung, Saft und gesüßtem Tee. Hier ist therapeutische, emotionale Begleitung vorrangig.
 

Gewichtskurve: © Márta Guóth-Gumberger; Daten: Daniela Karall

Abbildung 3: Gewichtskurve eines Mädchens, ausschließlich mit Flasche
ernährt, kompensatorisches Füttern von deutlich zu viel künstlicher Nahrung
und gesüßten Getränken.

 


Bei einem ausschließlich gestillten Baby dagegen ist ein Kreuzen der Perzentilenkurven nach oben kein Überfüttern. Übergewicht ist nicht möglich, selbst bei einer Gewichtszunahme von 600 g/Woche (Guóth-Gumberger 2018a, 79–83). Dies ist kein kompensatorisches Stillen. Maßnahmen wie Vergrößern der Abstände zwischen den Mahlzeiten sind nicht erforderlich, weil die Kurve von selbst einschwenken wird. Natürlich kann es trotzdem emotionelle Themen in der Familie geben und es ist sinnvoll, sich mit ihnen zu befassen, allerdings nicht durch eine Reduzierung des Stillens.

 

Was ist altersgemäß beim Stillen?

 

Auch wenn emotionale Gründe vorliegen, ist es wichtig, zuerst den aktuellen Hunger zu beseitigen oder den Zustand, über längere Zeit zu wenig Milch getrunken zu haben. Denn dies an sich bedeutet schon Stress. Dann kann man sich weiteren emotionalen Ursachen zuwenden. Wie kann das eine Fachkraft umsetzen, deren Spezialgebiet nicht das Stillen und die Gewichtszunahme ist? Zuerst ist es notwendig, das altersgemäße normale Verhalten eines gestillten Babys zu kennen. Dann wird die Fachkraft die Mutter in ihrem Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes bestärken können. Empfehlungen, die Abstände zu vergrößern oder den Schnuller einzuführen, werden dann nicht gegeben.

Als Orientierung und Einschätzung ist dieser Richtwert hilfreich: Eine Stillhäufigkeit von acht- bis zwölfmal in 24 Stunden meist beidseitig ist bei den allermeisten Stillpaaren ab Geburt bis sechs Monate erforderlich, damit das Baby genügend Milch erhält. Die physiologische Stillhäufigkeit ist nicht bei allen bekannt, die pflegerisch, medizinisch und therapeutisch arbeiten. Auch manche Hebammen empfehlen immer wieder drei bis vier Stunden Abstand zwischen Stillmahlzeiten und finden acht Stunden Nachtpause unbedenklich. Abbildung 1 zeigt ein Beispiel für die möglichen Folgen. Die Häufigkeit von acht- bis zwölfmal in 24 Stunden ist notwendig, um das Stillen längerfristig erhalten zu können (Guóth-Gumberger 2019).

Die Empfehlung von seltenerem Stillen, manchmal die Empfehlung einseitig zu stillen, entbehrt ohne sorgfältige Überprüfung der Gewichtskurve einer objektiven Grundlage. Die Stillmahlzeiten können regelmäßig, nämlich alle zwei bis drei Stunden eine größere Trinkmenge, oder unregelmäßig sein. Bei letzterem nimmt ein Baby zwei, drei oder vier Stunden lang halbstündlich oder stündlich eine kürzere Stillmahlzeit zu sich und schläft erst danach länger. Das sind viele kleine Gänge in einem großen Menü. Solches »Clusterfeeding« kann eine normale Stillfrequenz sein – die Frage ist, wie sich die Mutter darauf einlassen kann. Welche Unterstützung braucht sie in der Familie, damit sie ihrem Baby das häufige Stillen ermöglichen kann?

Mütter haben eine unterschiedliche Speicherkapazität in der Brust und Babys haben eine unterschiedliche Magengröße. Davon hängt es ab und ist kaum zu beeinflussen, ob das Baby selten eine größere Portion oder häufig kleine Portionen trinkt. Sehr häufiges Stillen ist daher ebenso physiologisch und es geht darum, sich darauf einzustellen.

Die Milchmenge wird in den ersten vier bis sechs Wochen hochgefahren, das ist die »Kalibrierung der Milchmenge«. In dieser Zeit ist häufiges Stillen besonders wichtig, von Monat 1 bis Monat 6 bleibt die Tagesmilchmenge etwa gleich.

Der Schnuller reduziert künstlich die Stillhäufigkeit und führt bei vielen (nicht bei allen) Müttern zu einer zu geringen Milchbildung und bei den Babys zu geringer Gewichtszunahme, was das Baby dann signalisiert.

Neugeborene und Babys in den ersten Wochen zeigen eindeutige Hungerzeichen, die bedeuten, dass sie an der Brust saugen möchten. Frühe Hungerzeichen sind: schnelle Augenbewegungen (auch im Halbschlaf), Stirnrunzeln, Hin- und Herdrehen des Köpfchens, Körperbewegungen, leise Geräusche, Lecken an den Lippen, Saugbewegungen und Sauggeräusche, herausgestreckte Zunge, Hand zum Mund führen. Weinen ist ein spätes Hungerzeichen. Nach den ersten Wochen entsteht eine individuelle Kommunikation zwischen Mutter und Kind und die klassischen frühen Hungerzeichen wie beispielsweise »Hand zum Mund« bedeuten beim Baby im dritten oder in späteren Monaten nicht immer Hunger.

Bei der Ernährung mit Muttermilchersatz ist Folgendes normal: eine Häufigkeit von mindestens acht Mahlzeiten in 24 Stunden, unregelmäßige Mahlzeiten, kleinere Portionen, später ein Nachschlag, Pre-Nahrung bis zum ersten Geburtstag, keine 1-er Nahrung, keine Folgenahrung. Es ist wichtig, die Mengenangaben bei der Zubereitung genau zu beachten. Der Schnuller kann auch neben der Flasche dazu führen, dass das Kind zu wenig Nahrung bekommt.

 

Verhalten interpretieren

 

Wie ist nun das Verhalten eines Babys, das über längere Zeit zu wenig Milch getrunken hat? Es ist möglich, dass ein Baby über drei bis vier Wochen zu wenig getrunken hat, sich ständig in einem »leichten Fastenzustand« befand, aber eventuell noch nichts an seinem Verhalten oder seinem Aussehen zu bemerken ist. Diese Phase ist jedoch bereits am Gewichtsverlauf und an den Ausscheidungen zu erkennen.

Irgendwann ist es auch am Verhalten zu erkennen: unruhige Stillmahlzeiten, ständig Ran-Weg, Abstemmen von der Brust, Weinen vor oder nach dem Stillen. Der Gesichtsausdruck ist leicht gestresst, angespannt. Babys, die deutlich zu wenig Milch zu sich nehmen, zeigen zwei unterschiedliche Verhaltensweisen: Manche quengeln, weinen, sind sehr unruhig – dies ist leichter zu erkennen. Andere Babys gehen in Rückzug, werden äußerst »pflegeleicht«, verschlafen ihren Hunger, gehen auf Sparflamme – dies ist sehr leicht zu übersehen und wird oft falsch interpretiert. Klinische Zeichen wie Apathie, glanzlose Augen, schlechter Hautturgor, sehr wenig Ausscheidungen treten erst Wochen später auf. »Das Baby sieht (noch) gut aus«, ist daher kein ausreichendes Kriterium, dass es genügend Milch bekommt (siehe Kasten: Frühe Anzeichen).

Wenn Babys zu wenig trinken

 

Frühe Anzeichen

 

Nach der ersten Lebenswoche gibt es einige konkrete Hinweise dafür, dass ein Baby zu wenig Milch getrunken hat:

  • bei gestillten Babys seltener als dreimal Stuhl in 24 Stunden während der ersten vier bis sechs Wochen (danach können die Stuhlausscheidungen seltener sein)
  • bei künstlicher Säuglingsnahrung seltener als dreimal Stuhl in 24 Stunden während der ersten vier bis sechs Wochen, danach seltener als einmal Stuhl in 24 Stunden
  • weniger als fünf bis sechs gut nasse Windeln/Tag, zwischendurch trockene Windel, gelber Urin.

Die Gewichtskurve fällt innerhalb der WHO-Standards ab (siehe Abbildungen 1 und 2). Altersgemäß ist Wachstum entlang einer Perzentile (egal, welche).

Ob eine Mutter meint, zu wenig Milch zu haben, ihr Baby aber mit ihrer Milch altersgemäß gedeiht, oder ob die Muttermilch tatsächlich zu wenig ist, beschreibt die Grauzone. Wenn Mütter bei ihrem Baby Unruhe wahrnehmen, sind sie zunächst vor allem besorgt, dass sie nicht genug Milch haben und dass das Kind nicht satt wird. Ihr Umfeld bestärkt sie oft in dieser Angst: »Gib ihm mal etwas Gescheites!« oder: »Vielleicht reicht deine Milch nicht« sind häufige Kommentare. Wann ist diese Sorge unbegründet und das Baby hat andere Gründe zu weinen? Auch hier hilft die Gewichtskurve über den gesamten Verlauf. Wenn das Wachstum perzentilenparallel ist, auch entlang einer der unteren Perzentilen, ist das Gedeihen angemessen und das Baby bekommt genügend Milch. Wenn das Baby im unteren Bereich wächst, ist es sinnvoll, es alle drei bis vier Wochen zu wiegen und die Kurve zu überprüfen.

Es ist wichtig zu unterscheiden, ob das Baby zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über einen längeren Zeitraum Hunger hatte. Hunger gegen 5 Uhr abends ist typisch, manchmal kann dieser Hunger nicht sofort befriedigt werden. Viele Mütter haben hormonell bedingt und ausgeruht nachts und vormittags mehr Milch. Anders ist es, wenn das Baby über Wochen in der Summe zu wenig Muttermilch getrunken hat, also einschließlich nachts und vormittags. Dann ist es wichtig, die Ursache herauszufinden. Die häufigsten Gründe sind: nicht angemessene Stillhäufigkeit, Schmerzen, wunde Brustwarzen, ein zu kurzes Zungenband, eine nicht eingestellte und nicht engmaschig kontrollierte Schilddrüsenunterfunktion der Mutter und anderes.

Es kann auch vorkommen, dass die Mutter bei der kinderärztlichen Untersuchung hört, ihr Baby sei zu leicht. Das kann eine Abwärtsspirale auslösen: Die Mutter ist gestresst, beginnt sich Sorgen zu machen und beim Stillen tauchen Schwierigkeiten auf. Auch hier ist es wichtig, mit der genauen Gewichtskurve den Verlauf zu überprüfen. Bei der pädiatrischen Einschätzung kann beides vorkommen: der Hinweis auf zu wenig Gewicht, obwohl das Baby perzentilenparallel zunimmt – vielleicht auf einer unteren Perzentile – oder die Rückmeldung, mit dem Gewicht sei alles in Ordnung, obwohl der Verlauf Perzentilen nach unten kreuzte, aber wegen eines hohen Geburtsgewichts noch immer im oberen Bereich der Perzentilen liegt.

Wenn die Gewichtskurve nach unten kreuzt, steht die Entscheidung im Raum, ob und wann und wie zugefüttert werden muss. Dafür gibt es detaillierte Beschreibungen (Guóth-Gumberger 2021a; 2021b). In diesem Fall geht es darum, wie die Mutter unterstützt werden kann, um das Stillen aufrechtzuerhalten und die Milchmenge zu steigern.

 

Der Schlüssel: die Gewichtskurve

 

Wie wird nun der Gewichtsverlauf routinemäßig und objektiv erfasst? Dazu werden alle Gewichtswerte des Babys ab Geburt innerhalb der WHO-Standards (WHO 2006) als Kurve von Hand oder mit STILLDOK (Guóth-Gumberger 2018b, 2020b) visuell dargestellt. Wichtig sind ein angemessener Maßstab, genaues Zeichnen und die Beschriftung der Gewichtskurve mit Legenden, wann und wie gestillt oder gefüttert wurde (siehe Kasten: Beurteilung des Gewichtsverlaufs).

Beurteilung des Gewichtsverlaufs

 

Babys, die sehr viel weinen

 

Hat das Weinen körperliche oder emotionale Ursachen oder beides? Um zu erkennen, ob das Baby über längere Zeit zu wenig Nahrung zu sich genommen hat, ist das aktuelle Gewicht nicht ausreichend (siehe Abbildung 2). Sie benötigen den gesamten Verlauf mit allen Gewichtswerten mit Datum seit der Geburt.

  • Sie tragen diese Werte von Hand in die WHO-Standards ein (WHO 2006).
  • Oder Sie zeichnen die Kurve mit einem Programm oder STILLDOK in die WHO-Standards und drucken sie aus (Guóth-Gumberger 2018b; 2020b). Wichtig ist ein ausreichend großer Maßstab.
  • Sie beurteilen die Kurve visuell:
  • Ein kleiner Knick nach unten nach der Geburt ist in Ordnung.
  • Verläuft die Kurve danach parallel zu einer der Perzentilen – es kann eine untere oder obere Perzentile sein, so hat das Baby ein altersgemäßes Wachstum. Es hat genügend Nahrung erhalten.
  • Kreuzt die Kurve innerhalb der Perzentilen nach oben, hat das Baby genügend Nahrung erhalten.
  • Kreuzt die Kurve innerhalb der Perzentilen leicht nach unten (beispielsweise von P85 auf P70 oder von P35 auf P20), ist das ein suboptimales Wachstum: Das Baby war über Wochen in einem leichten Fastenzustand. Dies trägt zu Unwohlsein und viel Weinen bei. Es ist vorrangig, dies zu ändern.
  • Kreuzt die Kurve innerhalb der Perzentilen stark nach unten (beispielsweise von P85 auf P50 oder von P35 auf P3), ist das eine deutlich zu geringe Gewichtszunahme: Das Baby war über Wochen in einem starken Fastenzustand. Das zeigt es durch viel Weinen oder durch Rückzug. Sofortige Maßnahmen sind erforderlich.
  • Kreuzt die Kurve innerhalb der Perzentilen sehr stark nach unten (beispielsweise von P85 auf P30 oder von P60 auf P3 oder weit unterhalb von P3), ist das eine schwere Gedeihstörung: Sofortige ärztliche Behandlung und sofortige Maßnahmen zur Ernährung sind erforderlich.

Jede beratende oder therapeutische Unterstützung bei starkem Weinen sollte auf diese Weise ausschließen, dass das Baby wegen zu wenig Nahrungsaufnahme Stress erlebt.

Aus der Beobachtung, das Baby habe »seit letzten Freitag 120 Gramm zugenommen«, ist keinerlei Schlussfolgerung möglich, das ist nicht ausreichend. Die Gewichtszunahme in Gramm pro Tag oder pro Woche zu berechnen und mit altersgemäßen Werten zu vergleichen, ist nicht praktikabel, weil die Vergleichswerte einegroße Bandbreite haben. So liegt beispielsweise zwischen ein und zwei Monaten die angemessene Gewichtszunahme bei einem eher schweren Jungen um 310 g/Woche und bei einem zarten Mädchen bei 170 g/Woche. Die Gewichtskurve berücksichtigt automatisch all diese Faktoren.

Die WHO-Standards beschreiben das Wachstum von gesunden, termingeborenen Babys, die mindestens vier Monate lang ausschließlich oder vorwiegend gestillt worden sind. Die Kurve, die entlang einer der Perzentilkurven der WHO-Standards verläuft, beschreibt einen normalen und altersgemäßen Verlauf (Guóth-Gumberger 2018a; 2021a; 2021b; 2020a).

Leichtes Kreuzen nach unten (beispielsweise von P35 zu P20) über mehrere Wochen bedeutet einen »suboptimalen Verlauf«, den das Baby als leichten Fastenzustand erlebt. Hier ist genauere Beratung für das Stillen oder die Ernährung sinnvoll. Dies kann in der Regel allein durch unterstützende Maßnahmen ausgeglichen werden. Zufüttern ist nicht erforderlich. Allerdings ist es offensichtlich, dass es nicht sinnvoll wäre, seltener zu stillen.

 

Zu Anfang jeder Beratung: Gewichtsverlauf prüfen

 

Der dringende Appell geht an alle, die Eltern Unterstützung wegen des Weinens ihres Babys anbieten, routinemäßig die Gewichtskurve des Babys persönlich zu überprüfen. Zur Einarbeitung gibt es gute Internetseiten (EISL 2021; Guóth-Gumberger 2020b) und Literatur (Guóth-Gumberger 2021b; 2018a) oder gegebenenfalls Supervision. Nach Beurteilung von etwa 20 Gewichtskurven wird eine Fachkraft genügend Sicherheit in der Einschätzung haben. Falls nötig, ist Beratung zu Stillen und Ernährung vorrangig, während die Familie auch therapeutische und beratende Unterstützung angeboten bekommt.

Rubrik: 1. Lebensjahr | DHZ 12/2021

Literatur

EISL: Gewichtsentwicklung und Gedeihen. EISL 2021. https://www.stillen-institut.com/de/gewichtsentwicklung-und-gedeihen.html.

Guóth-Gumberger M: Gewichtsverlauf und Stillen, Dokumentieren, Beurteilen, Begleiten. Frankfurt: Mabuse Verlag 2018a

Guóth-Gumberger M: «Gewichtskurven – deskriptiv oder präskriptiv?” Laktation & Stillen 2019. (3): 4–9
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