Leseprobe: DHZ 06/2024
Empathiebasiertes Entlastungstraining

Nettsein ist noch keine Empathie

Hebammenarbeit ist Beziehungsarbeit. Sie findet im intensiven, vertraulichen Austausch mit anderen Personen statt. Oft sind starke Gefühle im Spiel. Das kann auch belastend sein und zu Erschöpfung und Burnout führen. Das Trainingskonzept »empCare« bietet Hebammen und Studierenden praxistaugliche Strategien, wie sie mit professioneller Nähe gesund bleiben können. Dr. Susanne Schrötter,
  • Reflektiert eingesetzte Empathie schafft berufliche Zufriedenheit und schützt vor Burnout.

Lea ist Studierende im 5. Semester Hebammenwissenschaft und nach ihrem Theorieblock an der Uni den ersten Tag wieder im Kreißsaal. Wie immer am ersten Tag ist sie angespannt. Ihre zuständige Hebamme ist zwischen zwei Sälen unterwegs, betreut eine von der vorhergegangenen Geburt traumatisierte Frau, die nur von ihr begleitet werden möchte, und parallel – abgeschirmt im anderen Saal – eine Schwangere mit Präeklampsie.

Im Vorbeigehen wird Lea aufgefordert, sich schnellstens selbstständig um eine Schwangere zu kümmern, die gerade als Notfall in den Kreißsaal kam: Frau Detloff ist zu Hause kollabiert, sie fühlt sich schlecht und schwach. Weil sie keine Tabletten mag, hatte sie versucht, einen vor Wochen diagnostizierten Eisenmangel diätetisch auszugleichen. Nun steht der Verdacht einer schweren Anämie im Raum. Zur Abklärung soll in den nächsten zehn Minuten eine Blutprobe im Labor sein. Die Kreißsaal-Ärztin wartet schon auf die Ergebnisse.

Frau Detloff ist sehr schmerzempfindlich, hat kaum fühlbare Venen und mit »Spritzen aller Art« schlechte Erfahrungen gemacht, wie sie erzählt. Lea hat Blutentnahmen bisher nur im Skillslab und einmal im Kreißsaal durchführen dürfen. Bei ihrem ersten Punktionsversuch zuckt Frau Detloff zusammen und die Studentin verfehlt die Vene. Mit einer heftigen Bewegung und Tränen in den Augen zieht die Schwangere ihren Arm zurück. Dabei fallen die vorbereiteten Materialien zu Boden. Lea hat Mühe, eine Verletzung mit der Kanüle zu verhindern.

 

Der empathische Kurzschluss

 

Eine emotional herausfordernde Situation für beide Seiten. Es geht um intensive Gefühle vor, während und nach der Geburt eines Kindes. Dazu kommen oft stressreiche Arbeits­bedingungen mit Zeitdruck und einer Arbeitskultur, in der Solidarität und Vorbilder im reflektierten Umgang mit Emotionen nicht selbstverständlich sind.

Im Laufe eines Praxistages ist Lea den unterschiedlichen Gefühlen der begleiteten Frauen und Familien in schnellem Wechsel ausgesetzt – von tief empfundenem Glück und unfassbarem Staunen über Verunsicherung, Schmerz, Angst, Verzweiflung bis hin zu Traumageschehen.

Auch der von ihren Kolleginnen gefühlte Druck und Stress wirken auf sie ein. All diese Gefühle finden Resonanz in Lea, schwingen in ihr mit als parallele Gefühle. Daneben entstehen in ihr eigene Gefühle wie Ärger, Überforderung oder Hilflosigkeit als Reaktion auf die erlebten Situationen.

Gleichzeitig wirken die beruflichen Rollenerwartungen, stets empathisch und gleichbleibend freundlich zu sein, negative Emotionen nicht zu zeigen und immer eine Lösung parat zu haben. All das geschieht sekundenschnell und unbewusst. Kein Wunder, dass ein solch hohes Maß an zum Teil widerstreitenden und überwältigenden Gefühlen zu Überlastung führen kann.

Lea hat nun zwei Möglichkeiten, um mit Frau Detloff umzugehen, die starke Gefühle zeigt: Sie kann sich empathisch einlassen oder die belastende Interaktion unterbrechen. Auch diese Entscheidung fällt in Sekunden. Sie wird durch unsere innere Bewertungsinstanz, das Appraisal, unterbewusst gesteuert. Zwei Faktoren spielen dabei eine Rolle: die Einschätzung der Stärke der Belastung und die Einschätzung der eigenen Bewältigungskompetenz für diese Belastung.

Fühlen wir uns überfordert, sorgt unsere innere Bewertungsinstanz – wie eine elektrische Sicherung – für eine Unterbrechung des emotionalen Kontaktes durch Flucht oder Aggression (Lazarus & Folkmann, 1984). Beides kommt als adäquate Reaktion im Hebammenkontext nicht in Frage. Beschäftigte in Gesundheits- und Sozialberufen entwickeln daher ein breites Repertoire, um die eigenen und die Gefühle ihres Gegenübers schnell zu regulieren und der belastenden Interaktion in möglichst sozial akzeptierter Weise zu entkommen (Thiry & Weihrich, 2019). Beschwichtigende Aufmunterungen, freundliche Trostformeln oder ein Ratschlag sind oft der Ausweg. Solche Reaktionen werden als empathischer Kurzschluss (Altmann, 2015) oder Pseudo-Empathie (Schönefeld, 2019) bezeichnet.

 

Selbstschutz durch Pseudo-Empathie

 

Die geschilderte Situation ist fiktiv. Sie ist ein Übungsimpuls im empCARE-Training mit Hebammenstudierenden, das den Fokus auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen lenkt. Die empCARE-Trainer:innen nutzen die Übung, um Pseudo-Empathie und ihre Folgen erlebbar zu machen.

Die Studierenden werden eingeladen, sich in Lea hineinzuversetzen und zunächst nach ihren spontanen Gefühlen und Gedanken in dieser Situation gefragt. Häufig kommen Aussagen wie: »Auch das noch, ich will hier weg«, »Wieso lassen die mich so allein?«, »Machen Sie es mir doch nicht so schwer«, »Weil Sie ihre Medikamente nicht nehmen, hab ich jetzt den Stress«, »Was sag ich jetzt der Hebamme?«, »Was denkt Frau D. von mir?«

Anschließend werden die Studierenden gefragt, wie sie in der Situation reagieren würden. Obwohl sie deutlich Hilflosigkeit, Überforderung, Wut, Angst oder Scham spüren, fallen die Antworten in der Regel ganz anders aus: »Kein Problem, ich bereite das nochmal vor, wir suchen eine bessere Stelle«, »Nicht schlimm, lassen Sie uns auf die Hebamme warten« (schnelle Lösung), »Keine Angst, das ist doch nur wie ein Mückenstich« (Bagatellisieren), »Kopf hoch, Sie schaffen das schon« (Aufmuntern), »Je besser Sie mitarbeiten, umso besser klappt es auch« (Belehren), »Denken Sie doch an Ihr Baby, das ist jetzt wichtig« (Moralisieren).

 

Emotionale Dissonanz als Belastungsfaktor

 

Es besteht ein Zwiespalt zwischen dem, was die Studierenden fühlen, und dem, was sie glauben fühlen zu müssen und zeigen zu dürfen. Dieses Phänomen wird als emotionale Dissonanz bezeichnet und gilt als starker Belastungsfaktor in gesundheitsbezogenen Dienstleistungsberufen (Nerdinger, 2003). »Das ist ein krasser und sehr anstrengender Balance-Akt«, beschreibt eine Studierende diesen Zustand ganz überrascht als ein Aha-Erlebnis aus dieser Übung.

Eine pseudo-empathische Äußerung scheint sich zwar auf die Gefühle des Gegenübers zu beziehen, dient jedoch der Reduzierung eigener negativer Gefühle und damit der eigenen emotionalen Entlastung. Sie ist eine emotionsfokussierte Coping-Strategie. Im Alltag ist sie eine gebräuchliche Reaktion, um uns vor emotionaler Überwältigung zu schützen, ohne uns oder unsere Beziehungen dauerhaft zu gefährden. Im beruflichen Kontext jedoch kann sich dieser schützende Mechanismus langfristig in sein Gegenteil verkehren und die Entstehung von Burnout unterstützen (Schönefeld, 2019). Das hat verschiedene Gründe:

  • Pseudo-empathische Reaktionen nehmen die Chance, eine echte Verbindung zu erleben. Hebammen definieren sich über ihre sehr nahe und vertrauensvolle Beziehung zu den Frauen und wollen sie auch in emotional herausfordernden Situationen unterstützen (Leinweber, 2013). Kann der Anspruch wiederholt nicht umgesetzt werden, beeinträchtigt das Motivation und Sinnstiftung.
  • Pseudo-empathische Reaktionen sind damit verbunden, eigene Gefühle zu verdrängen und sich selbst als nicht authentisch zu erleben – mit der Gefahr, sich langfristig immer mehr von sich selbst zu entfremden.
  • Pseudo-empathische Reaktionen bestärken die Einschätzung, herausfordernden Interaktionen nicht gewachsen zu sein, und beeinträchtigen das Selbstwirksamkeitserleben.

Da Hebammenarbeit im intensiven, oft vertraulichen Austausch mit anderen Personen stattfindet und dabei grundlegende Bedürfnisse des menschlichen Lebens berührt, erleben Hebammen regelmäßig emotional aufgeladene Interaktionen und emotionale Dissonanz, wenn sie pseudo-empathisch reagieren. Je häufiger die innere Bewertungsinstanz die eigene Bewältigungskompetenz als unzureichend einschätzt, umso häufiger werden pseudo-empathische Äußerungen eingesetzt. Ein Teufelskreis, der durch strukturelle Umgebungsfaktoren wie Zeitdruck und Arbeitsverdichtung noch verstärkt wird.

 

Mit reflektierter Empathie gesund bleiben

 

Zuwendung, Mitgefühl und Empathie für andere gelten als selbstverständlich für Menschen, die in Gesundheits- und Sozialberufen arbeiten. Das gilt auch für Hebammen. Sie lassen sich auf andere ein und beherrschen die eigenen Gefühle und Bedürfnisse – bis zur Selbstverleugnung. Das kostet Kraft, kann zur Erschöpfung und zum Berufsausstieg führen.

empCARE ist ein Entlastungs-Training, in dem die Teilnehmenden lernen können, emotional herausfordernde Situationen zu reflektieren, Empathie bewusst einzusetzen und sich gleichzeitig vor einer emotionalen Überforderung zu schützen. Einen besonderen Schwerpunkt legt das Training auf die Reflexion der eigenen Gefühle und Bedürfnisse in belastenden Interaktionen und damit auf die Verhinderung von Mitgefühlsermüdung und Burnout.

Das erfahrungsorientierte Seminarkonzept sieht neben theoretischem Input Übungen vor, in denen die Teilnehmenden reflektiert-empathische Interaktionen erproben. Es besteht aus einem zweitägigen Intensivtraining und Coachings oder Fallbesprechungen nach sechs bis acht Wochen.

Die Ergebnisse einer umfangreichen wissenschaftlichen Evaluation weisen die Wirksamkeit von empCARE nach bei der Reduktion von Burnout, Depressivität und psychosomatischen Beschwerden (Deckers, 2021).

> www.empcare.de.

 

 

Professionelle Nähe statt Distanz

 

Die Lösung ist nun nicht etwa die häufig beschworene professionelle Distanz, sondern die Gestaltung professioneller Nähe (Thiry, 2023). Empathie gehört zu unserer menschlichen Grundausstattung. Wir alle haben das Bedürfnis, verstanden zu werden und zu verstehen. Wird es erfüllt, entsteht eine stärkende Verbindung, die auf beiden Seiten spürbar ist.

Richard L. Harrison und Marvin J. Westwood befragten US-amerikanische Trauma-Therapeut:innen, wie sie sich vor sekundärer Traumatisierung schützen (Harrison & Westwood, 2009) . Davon ausgehend, dass empathisches Engagement eher ein Risikofaktor ist, waren sie überrascht zu erfahren, wie sehr die Befragten in ihrer Arbeit von einer sogenannten »exquisiten« Empathie mit ihren Klient:innen getragen werden: »Ich gehe auf sie zu, anstatt mich von ihnen zu entfernen, und ich glaube, dass ich mich auf diese Weise vor einer sekundären Traumatisierung schütze. Die Verbindung ist es, die hilft und ein Gegenmittel gegen den Schrecken ist.« (ebd. 215, eigene Übersetzung).

Diese »exquisite« Empathie beschreiben sie als einen engen emotionalen Kontakt, der auf vollständiger Präsenz und aufrichtiger, reflektierter Anteilnahme beruht: sich einfühlen, zuhören, sich berühren lassen und das auch ausdrücken.

Gelingen kann diese schützende professionelle Nähe nur durch das gleichzeitige Respektieren klarer und konsequenter Grenzen in der Interaktion: realistische Erwartungen an sich selbst, das eigene Belastungsrisiko akzeptieren, zeitliche und räumliche, psychische und physische Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben wahren, keine Verantwortung für Gefühle und Veränderung der Klient:in übernehmen, zwischen eigenen und fremden Gefühlen unterscheiden und sich stets bewusst sein, dass es nicht die eigene Lebenssituation ist, die die Gefühle auslöst (Harrison & Westwood 2009).

Schützende professionelle Nähe stellt sich nicht automatisch ein. Sie beruht auf der bewussten Wahrnehmung, Akzeptanz und Reflexion der eigenen und fremden Gefühle und der bewussten Differenzierung zwischen beiden. Es geht um die Gestaltung reflektierter empathischer Interaktionen.

Genau das sollen die empCARE-Seminare den Hebammen-Studierenden ermöglichen. In Anlehnung an das Modell der Gewaltfreien Kommunikation (Rosenberg, 2008) lernen die Teilnehmenden schrittweise das wertfreie Beobachten, Erkennen und Ausdrücken von Gefühlen – auch wenn diese negativ sind. Schon die Erkenntnis, nicht für die Gefühle der begleiteten Frauen verantwortlich zu sein, sondern sie durch ihr Anerkennen in der Emotionsregulation zu unterstützen, wird in den Seminaren oft als entlastend erlebt.

Das Benennen der Gefühle, statt dem ersten Impuls zu ihrer Regulierung nachzugeben, ermöglicht es, im Gespräch herauszufinden, welche (unbefriedigten) Bedürfnisse hinter den starken Gefühlen liegen. Dann kann gemeinsam eine Strategie zur Bewältigung der emotional herausfordernden Situation ausgehandelt werden.

 

Resümee für die Praxis

 

  1. Empathie gehört zu unserer menschlichen Grundausstattung. Wir alle haben das Bedürfnis, verstanden zu werden und zu verstehen. Wird es erfüllt, entsteht eine stärkende Verbindung, die auf beiden Seiten spürbar ist.
  2. Empathische Interaktionen sind komplex und können ohne Reflexion der daran beteiligten Gefühle zum empathischen Kurzschluss führen.
  3. Reflektiert eingesetzte Empathie schafft berufliche Zufriedenheit und schützt vor Burnout.

 

 

Gefühle wahrnehmen und reflektieren

 

Was bedeutet das nun für die Interaktion zwischen Lea und Frau Detloff? Eine der oben zitierten Reaktionen der Studierenden könnte zufällig genau die richtige für Frau Detloff sein und ihren Bedürfnissen entsprechen. Sie könnte aber genauso gut Enttäuschung, Frustration oder Rückzug auslösen. Herausfinden können es beide nur im gegenseitigen Abgleich, für den Lea einen unterstützenden Rahmen und Impulse geben kann.

Wenn Lea kurz innehält und sich ganz Frau Detloff zuwendet, statt eine Aufmunterung oder Lösung parat zu haben, kann sie die Situation ganz bewusst wahrnehmen. Auch das dauert nur Sekunden. Vielleicht genügt als Türöffner schon das kleine Signal, dass Lea die Ängste und Bedrängnis von Frau Detloff aufmerksam wahrgenommen hat und sie Anteil nimmt: »Das ist gerade alles ganz schön viel für Sie?« Durch das akzeptierende Benennen der Gefühle, kann eine Verbindung entstehen und Lea tatsächlich »mit der Frau sein«, wie es die englische Berufsbezeichnung »mid-wife« nahelegt.

Wir entscheiden selbst, ob, wann und mit wem wir empathisch sind – nicht immer tun wir das bewusst. Empathie ist keine leicht verfügbare Kompetenz, die sich automatisch und nebenbei im Studium einstellt – oder eben nicht. Sie ist ein willentlicher und äußerst komplexer Akt, der zu Überlastung führen kann, wenn er automatisch und unreflektiert abläuft. Deshalb brauchen (angehende) Hebammen Raum, Erlaubnis und Unterstützung, um eigene Gefühle, Einstellungen und Bedürfnisse wahrnehmen, akzeptieren, reflektieren und regulieren zu können.

Nur mit reflektierter, bedürfnisorientierter Empathie kann eine Beziehungsarbeit gelingen, die Wohlbefinden, Belastbarkeit und Berufszufriedenheit von Hebammen stärkt. Sie entscheidet über die Qualität der Beziehung zwischen einer Schwangeren oder Gebärenden und ihrer Hebamme, einer Beziehung, die den Verlauf von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett im Guten wie im Schlechten maßgeblich beeinflussen kann (Moloney & Gair, 2015. Charitou et al., 2019. Hüner et al., 2023).

Rubrik: , Beruf & Praxis | DHZ 06/2024

Literatur

Altmann, T. (2015). Entwicklung des Trainingsprogramms. Empathie in sozialen und Pflegeberufen: Entwicklung und Evaluation eines Trainingsprogramms, 71–107.

Charitou, A., Fifli, P., Vivilaki ,V.G. (2019). Is empathy an important attribute of midwives and other health professionals? A review. European journal of midwifery. 3.

Deckers, M., Schönefeld, V., Altmann, T., Roth, M. (2021): (2021). Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit des empCARE-Konzepts. In: Thiry, L. et al.: empCARE –Arbeitsbuch zur empathiebasierten Entlastung in Pflege- und Sozialberufen. Berlin: Springer.
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