Interprofessionelles Lernen (IPL)

Kompetenzen verbinden

Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf bringt das Projekt »Interprofessional Education of Midwifery and Medical Students« angehende Hebammen und Ärzt:innen an einem interprofessionellen Tag pro Semester zusammen. Eine Forschungsgruppe hat ihre Sozialisation und Einstellung sowie ihren Bedarf nach interprofessionellen Lehr-Lern-Angeboten erfragt und verglichen. Caroline J. Agricola, Prof. Dr. Birgit-Christiane Zyriax, Merle L. Juschka , Dr. Sonja Mohr, Felix A. Neumann

Im nationalen Gesundheitsziel rund um die Geburt wird gefordert, dass »die an der Geburt beteiligten Berufsgruppen [..] konstruktiv und partnerschaftlich zusammen [arbeiten] und [..] eine möglichst kontinuierliche Betreuung [gewährleisten]« (Bundesministerium für Gesundheit, 2017). Die Qualität der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit von Hebammen und Ärzt:innen bei der Versorgung von Frauen rund um die Geburt beeinflusst sowohl das maternale und fetale Outcome (Hüner et al., 2023; Cornthwaite et al., 2023) als auch die Arbeitszufriedenheit von Hebammen (Stahl & Agricola, 2021).

Als Herausforderungen für eine gelungene Zusammenarbeit nannten Hebammen in einer deutschen Studie die Unterschiede in der Berufsausbildung sowie der professionsbezogenen Perspektiven auf die Geburtshilfe (Schulz, Richter & Wirtz, 2021). Laut Jutta Räbiger und Eva-Maria Beck (2018) ist für eine gelungene interprofessionelle Zusammenarbeit in der Versorgung das interprofessionelle Lernen (IPL) in der Ausbildung elementar. Auch im Hebammengesetz (HebG) und im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM 2.0) sind interprofessionelle Kernkompetenzen als Ausbildungsziele verankert. IPL bezeichnet, wenn Studierende von mindestens zwei verschiedenen Professionen miteinander, voneinander und übereinander lernen (World Health Organization, 2019).

Mit der Akademisierung des Hebammenberufs im Jahr 2020, der mit einem Transfer vom Lernort Berufsschule an die Hochschule einhergeht, entstanden strukturelle Voraussetzungen, um beide Professionen bereits im Studium für den Erwerb von interprofessionellen Kompetenzen zusammenzubringen. Insbesondere fall- und problemorientierte Lehr-Lern-Angebote bieten sich für IPL an, da Studierende in den Austausch kommen und basierend auf Praxiserfahrungen gemeinsam Lösungen entwickeln können (Liaw et al., 2014).

 

Fragestellung

 

Um Studierenden der Hebammenwissenschaft und Medizin IPL anzubieten, wurde am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf im Jahr 2022 das Projekt »Interprofessional Education of Midwifery and Medical Students (IPE-MidMed)« gestartet. Ziel war, einen professionsübergreifenden Austausch zwischen den Studierenden der Hebammenwissenschaft und Medizin sowie den Erwerb von interprofessionellen Kompetenzen zu ermöglichen. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet, um unter anderem folgende Forschungsfragen zu untersuchen:

  • Wie sind die Studierenden in ihrer interprofessionellen Einstellung sozialisiert und unterscheiden sich die Professionen in der Ausprägung ihrer Sozialisation?
  • Welchen Bedarf haben Studierende der Hebammenwissenschaft und der Medizin an interprofessionellen Lehr-Lern-Angeboten?

 

Methode

 

Das Projekt »IPE-MidMed« umfasst einen interprofessionellen Tag pro Semester für Hebammenwissenschafts- und Medizinstudierende über vier Semester hinweg (Sommersemester 2022 – Wintersemester 2023/2024). An diesen Tagen finden je sechs interprofessionelle Seminare à 135 min statt. In jedem Seminar können insgesamt 20 Studierende teilnehmen, je zehn aus der Hebammenwissenschaft und der Medizin.

In den Seminaren wurden fallbezogen Themen aus der Geburtshilfe und Pädiatrie, Humangenetik, digitalen Gesundheitsversorgung, kardiovaskulären Medizin, präventiven Medizin und medizinischen Psychologie erarbeitet. Beispielsweise wurden Fälle zu Frühgeburtlichkeit, Neugeborenensepsis oder dem Management einer ambulanten Geburt bearbeitet. Das Projekt wurde mit einem Mixed-Methods-Design evaluiert, einer Kombination aus quantitativer und qualitativer Forschung.

Im Anschluss an die Seminare konnten die Studierenden freiwillig an einer anonymen online-basierten Erhebung mittels Fragebogen teilnehmen. Dieser enthielt unter anderem eine Abfrage zur interprofessionellen Sozialisation der Studierenden zum IPL mit der deutschen Version der Skala »Interprofessional Socialization and Valuing Scale« (ISVS-21-D) von Mahler et al. (2022). Ergänzend wurden selbst entwickelte Items zur Evaluation der Seminare verwendet.

Zusätzlich wurde durch qualitative Fokusgruppeninterviews nach dem ersten und dritten Durchlauf die interprofessionelle Sozialisation und der Bedarf der Studierenden an IPL untersucht.

Ausgewertet wurden die quantitativen Ergebnisse deskriptiv und inferenzstatistisch sowie die qualitativen Daten mittels der Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring (2000). Auf Grundlage des Feedbacks der Studierenden wurden zudem Seminarstrukturen schrittweise nach der Methode des Action Researchs (Cohen, Manion & Morrison, 2007) zur Steigerung der Qualität angepasst.

 

Ergebnisse

 

Die Anzahl der Teilnehmenden in dem Projekt betrug beim ersten Durchlauf n = 85, beim zweiten und dritten jeweils n = 47. Der Anteil der Studierenden der Hebammenwissenschaft und Medizin variierte in der quantitativen Erhebung zwischen 47–58 % vs. 42–53 %. In den drei Durchläufen war das Alter der Medizinstudierenden im Mittelwert mit 24,0 Jahren (Standardabweichung = 3,9) niedriger als das der Hebammenwissenschaftsstudierenden mit 26,7 Jahren (Standard­abweichung = 6,9). Zudem war der Anteil männlicher Studierender in der Medizin höher als in der Hebammenwissenschaft (22–29 % vs. 2–5 %).

Basierend auf den Ergebnissen vom ISVS-21-D zeigte sich eine hohe Zustimmung zur Wertschätzung und Sozialisation im interprofessionellen Lehrsetting bei Studierenden beider Professionen. Die Ergebnisse der interprofessionellen Sozialisation unterschieden sich nicht signifikant (1. Durchlauf: t(73) = – 1,56, p = 0,124, 2. Durchlauf: t(41) = – 0,92, p = 0,927, 3. Durchlauf: t(39) = 1,14, p = 0,261).

Der Bedarf an weiterem IPL war insgesamt hoch und lag in den drei Durchläufen bei Studierenden der Hebammenwissenschaft zwischen 94 und 100 % und bei Studierenden der Medizin zwischen 76 und 100 %. An den qualitativen Fokusgruppeninterviews nahmen nach dem ersten Durchlauf n = 18 Studierende und n = 4 Dozierende teil. Nach dem dritten Durchlauf waren es n = 10 Studierende und n = 5 Dozierende.

Der Perspektivwechsel und der Austausch mit Studierenden der anderen Profession wurden positiv bewertet. Insgesamt gaben Studierende beider Professionen einen hohen Bedarf an interprofessionellen Lehr-Lern-Angeboten an. Auch Dozierende sahen Chancen im gegenseitigen Kennenlernen der unterschiedlichen Perspektiven und Vorteile für die interprofessionelle Zusammenarbeit in der Versorgung.

 

Diskussion und Schlussfolgerung

 

Die Ergebnisse zeigen, dass die interprofessionelle Sozialisation zwischen angehenden Hebammen und Ärzt:innen während der Ausbildung nicht divergierte. Ob sie sich mit der Teilnahme an interprofessionellen Seminaren verändert, wurde in dem Projekt nicht untersucht. Für Erkenntnisse zur Veränderung der interprofessionellen Sozialisation durch IPL werden Kohorten- und Interventionsstudien benötigt. Grundsätzlich werden in der Literatur langfristige Lehr-Lern-Angebote in den Curricula empfohlen, um eine Veränderung in der Sozialisation abzubilden (Walkenhorst & Hollweg, 2023).

Um die interprofessionelle Zusammenarbeit mit weiteren Gesundheitsberufen zu erlernen, werden interprofessionelle Lehr-Lern-Angebote mit pflegerischen und therapeutischen Berufen benötigt, zum Beispiel mit Pflege, Rettungsdienst, Physiotherapie oder Logopädie. Für diese langfristigen, interprofessionellen Lehr-Lern-Angebote für angehende Gesundheitsfachkräfte wären einheitliche Hochschulstrukturen hilfreich.

Ergänzend sollten Maßnahmen zur Verbesserung der interprofessionellen, sektorenübergreifenden Zusammenarbeit für praktizierende Versorger:innen entwickelt werden, um die Qualität der interprofessionellen Zusammenarbeit in der direkten Versorgung zu fördern und dabei Vorbilder für Studierende hervorzubringen. Aktuell werden am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf weitere Konzepte für interprofessionelle Lehr-Lern-Angebote erarbeitet.

Rubrik: Ausbildung und Studium | DHZ 02/2024

Literatur

Bundesministerium für Gesundheit (2017). Nationales Gesundheitsziel. Gesundheit rund um die Geburt. Berlin. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/Nationales_Gesundheitsziel_-_Gesundheit_rund_um_die_Geburt_barrierefrei.pdf

Cohen, L., Manion, L., & Morrison, K. (2007). Research Methods in Education (6th ed.). London and New York, NY: Routledge Falmer.

Cornthwaite, K., Edwards, S., & Siassakos, D. (2013). Reducing risk in maternity by optimising teamwork and leadership: an evidence-based approach to save mothers and babies. Best practice & research. Clinical obstetrics & gynaecology, 27(4), 571–581. https://doi.org/10.1016/j.bpobgyn.2013.04.004
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