Sprachförderung für Kinder mit Down-Syndrom

Gebärden: Fenster zum Denken

In den ersten Lebensjahren eines Kindes mit Down-Syndrom verläuft seine motorische, kognitive und somit auch sprachliche Entwicklung nicht linear, sondern oftmals asynchron. Dies erfordert einen besonderen Blick, um seine Entwicklung bestmöglich zu unterstützen. Oft besteht ein Unterschied zwischen Sprechen und Verstehen sowie den kognitiven Fähigkeiten, die schon viel besser sind. Gebärden können die Diskrepanz verringern. Prof. Dr. Etta Wilken
  • Die Gebärden-unterstützte Kommunikation erleichtert die Kommunikation mit Kindern, die (noch) nicht sprechen; das Sprechenlernen wird dadurch nicht beeinträchtigt.

Kinder mit Down-Syndrom zeigen eine große Heterogenität, was die Ausprägung der verschiedenen syndromspezifischen Probleme anbelangt. Das betrifft sowohl die Gesundheit (vgl. Hammersen, 2020, 209 f.) als auch die motorische und kognitive Entwicklung. Trotz einzelner abweichender Befunde liegt bei den meisten Kindern und Jugendlichen eine milde bis mäßige kognitive Beeinträchtigung vor (Ratz, 2013; Wilken, 2022a).

Insbesondere die verschiedenen Beeinträchtigungen von Kommunikation, Sprache und Sprechen weisen syndromspezifische Ausprägungen auf. Dabei sind sowohl die motorisch-funktionalen Fähigkeiten als auch die kognitiven, sozialen und emotionalen Voraussetzungen betroffen sowie die Motivation und das Bedürfnis, sich mitzuteilen (vgl. Wilken, 2022a, 57). Typisch ist zudem ein großer Unterschied zwischen Sprechen und Verstehen sowie den oft besseren kognitiven Fähigkeiten.

Bei Kindern mit Down-Syndrom sind in der Regel mehr oder weniger deutliche Verzögerungen in allen Entwicklungsbereichen festzustellen. Relevant sind jedoch nicht nur die Verzögerungen, sondern vor allem die damit verbundene typische intraindividuelle Asynchronie in der Entwicklung der verschiedenen Fähigkeiten. Dadurch kann die in der Regelentwicklung normalerweise bestehende Interdependenz der Bereiche erheblich gestört werden. Eine ungenügende wechselseitige Verstärkung und Passung der aufeinander bezogenen Entwicklungen von Motorik, Sprache und Kognition ist die Folge (Rau et al., 1996; Grimm, 2012).

Hinzu kommt, dass beim Down-Syndrom die der Entwicklung zugrundeliegenden Reifungsprozesse, im Gegensatz zu den Lernprozessen, nicht verzögert verlaufen. Das gilt sowohl für die präverbalen Fähigkeiten und für den Spracherwerb, als auch für die Kompetenzen, die sich bei der Nahrungsaufnahme entwickeln (Saugen, Trinken, Kauen). Deshalb benötigt ein Kind mit Down-Syndrom eine orofaziale Therapie und Sprachförderung, die unter Beachtung kritischer »bio-linguistischen Zeitfenster« (Locke, 1993; Grimm, 2012) methodisch sowohl das Lebensalter als auch das Entwicklungsalter berücksichtigt (Wilken, 2022a).

 

Logopädische und sprachliche Förderung

 

Bei kleinen Kindern mit Down-Syndrom gibt es in allen Entwicklungsbereichen unterschiedlich ausgeprägte Probleme, die erhebliche Auswirkungen haben können und möglichst frühzeitig erfasst werden sollten. Im Rahmen der üblichen ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen ist deshalb wichtig abzuklären, ob und welche dieser syndromtypischen Probleme bei einem Kind vorliegen (vgl. DS-Gesundheits-Check, 2020; DS-Leitlinien).

In der sprachlichen Entwicklung handelt es sich dabei um orofaziale Veränderungen. Dies können Veränderungen des Gaumens, der Zunge und Zungenlage, eine offene Mundhaltung oder eine orofaziale Hypotonie sein (vgl. Castillo Morales, 1991).

Oder es sind Veränderungen, die sich auf motorisch-funktionale Fähigkeiten auswirken, wie Saugen, Kauen, Lippen- und Zungenbeweglichkeit (vgl. Wilken, 2022a, 57), und auf emotionale und kognitive Grundlagen, wie referenzieller Blickkontakt, Objektpermanenz, Symbolverständnis oder deklaratives Zeigen (ebd., 2022a).

Die relativ kleine Mundhöhle, der enge hohe Gaumen und die hypotone Zunge beeinträchtigen durch den fehlenden Zungendruck auch die Entwicklung des Gaumens. Das Kauen bereitet den Kindern oft Schwierigkeiten und Nahrungsveränderungen tolerieren die meisten nicht. Viele Kinder sind besondere sensibel gegenüber Konsistenz, Geschmack, Geruch oder Temperatur. Es ist deshalb wichtig, nicht abzuwarten, sondern altersgemäß mit etwa sechs bis zehn Monaten verschiedene Nahrungsangebote zu machen, um einer selektiven Auswahl durch frühzeitige unterschiedliche Erfahrungen vorzubeugen.

So wichtig das Stillen sowohl für die frühe Ernährung als auch für die Mundmotorik ist, werden reifere Zungenbewegungen sowie differenziertere Kau- und Schluckmuster mit anderer Nahrung erlernt. Auch durch Munderfahrung mit unterschiedlichem Material, wie zum Beispiel Sauger, Löffel, Spielzeug, das zum Lutschen oder Beißen anregt, erweitert das Kind seine Fähigkeiten, so dass zum Ende des ersten Lebensjahres der Übergang zu festerer Kost meistens möglich wird (vgl. Wilken, 2020, 66). Zu beachten ist dabei aber, dass Kinder mit Down-Syndrom Mischkonsistenzen eher nicht akzeptieren. Günstig ist deshalb – wie es schon immer für Kleinkinder üblich war – erst einmal deutlich kontrastierende Angebote zu machen, beispielsweise Zwieback, Dinkel- oder Maisstange, und das möglichst zwischen den Mahlzeiten und nicht, wenn das Kind Hunger hat (vgl. Wilken, 2022a, 164).

 

Probleme erkennen und überwinden

 

Für die Sprachförderung ist zu beachten, dass die speziellen Probleme der Kinder nicht allein mit ihrer kognitiven Beeinträchtigung erklärt werden können. So ergab ein Vergleich mit Kindern, die eine gleich ausgeprägte kognitive Beeinträchtigung hatten, bei denen aber andere Ursachen zur Behinderung führten, dass die besonderen Schwierigkeiten der Kinder mit Down-Syndrom beim Spracherwerb und beim Sprechen syndromspezifisch sind und ein entsprechend typisches Sprachprofil bedingen (Miller et. al., 1999). Oft führt diese Diskrepanz zu frustrierenden Kommunikationssituationen und manchmal zu problematischem Verhalten (Chapman, 1999; Miller et al., 1999; Wilken, 2022a). Um diese Schwierigkeiten zu reduzieren, wurde die Gebärden-unterstützte Kommunikation (GuK) entwickelt (vgl. Wilken, 2000).

 

Etta Wilken spielt mit einem fünfjährigen Jungen ein Puzzle. Ziel ist es, mit Gebärden und verbaler Sprache seinen Wortschatz zu erweitern.

Durch spezielle therapeutische Angebote können primäre und mögliche sekundäre Probleme vermindert werden. Dabei richtet sich das sprachtherapeutische Angebot bei kleinen Kindern nach den individuellen Förderbedürfnissen und dient vor allem der Abklärung möglicher Probleme. Es erfolgt dann Kriterien-geleitet den aktuellen Erfordernissen entsprechend. Zumeist genügt es, diese Maßnahmen bei jüngeren Kindern in unregelmäßigen Abständen entwicklungsbegleitend durchzuführen und den Eltern alltagsorientiert zu vermitteln.

Bei Kindern im Kindergartenalter erfolgt die Therapie in der Regel über einen längeren Zeitraum als wöchentliche entwicklungsbegleitende Maßnahme. Dabei sollte das jeweils angestrebte Ziel möglichst klar definiert werden. Satzbau und Grammatik können bei den Kindern oft durch ergänzende Visualisierung mit entsprechendem Material beziehungsweise mit ergänzenden Kommunikationsmitteln unterstützt werden, wie Bilder, Wortbilder, eventuell auch Sprachausgabegeräte (vgl. Wilken, 2021).

Für die allgemeine Sprachförderung ist bedeutsam, die emotional-sozialen und sprach- (nicht sprech-)gebundenen kognitiven Fähigkeiten differenziert zu fördern (Chapman, 1999) und die Entwicklung der sprachlichen »Vorausläuferfähigkeiten« (Grimm, 2012) sowie der kognitiven Grundlagen zu unterstützen. Während spezielle Angebote meistens in der Therapie vermittelt werden, ist es jedoch wichtig, dass solche Hilfen von den Eltern und allen an der Förderung des Kindes beteiligten Personen alltagsorientiert eingesetzt werden. Ziel ist, dass das Kind so ihre Bedeutung konkret erleben kann.

 

Gemeinsam auf die Förderziele schauen

 

Zur allgemeinen Sprachförderung der Kinder ist außerdem wichtig, in Kooperation mit den Eltern günstige Bedingungen dafür zu gestalten. Auch alle anderen Personen, die therapeutisch und pädagogisch mit dem Kind arbeiten, sollten die jeweils aktuellen Förderziele kennen und möglichst berücksichtigen. Dazu sind entsprechende Absprachen im (Förder-)Team erforderlich. Es ist deshalb bei der Verordnung therapeutischer Maßnahmen wichtig, dass nicht nur eine Addition erfolgt, sondern eine Koordination gewährleistet ist. Im Rahmen einer interdisziplinären Frühförderung wird das meistens ermöglicht.

Zu den allgemein zu beachtenden sprachfördernden Angeboten gehören vor allem handlungsbegleitendes Sprechen und gezielte Wortschatzerweiterung, ein dialogisches und responsives Kommunikationsverhalten, das Stellen von Fragen und Erwarten von Antworten – verbal, mit Gebärden oder mit Zeigen. Auch die Unterstützung von Peerkontakten und von gemeinsamen Aktivitäten in Krippe und Kindergarten ist bedeutsam und sollte gerade in integrativen Einrichtungen reflektiert gestaltet werden (Dott & Licandro, 2022).

Definitionen

 

Funktionale Gesundheit

 

Der Begriff der Funktionsfähigkeit eines Menschen umfasst alle Aspekte der funktionalen Gesundheit. Eine Person ist funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren

  • ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen), 
  • sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), 
  • sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe] an Lebensbereichen). 

Der Behinderungsbegriff der ICF ist der Oberbegriff zu jeder Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Menschen. Er ist damit umfassender als der Behinderungsbegriff des Sozialgesetzbuches SGB IX. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte im Sozialbereich in Deutschland nur der Behinderungsbegriff des SGB IX verwendet werden.

 

Quelle: Aus der deutschen Fassung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) von 2005

Dem bio-psycho-sozialen Modell der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der WHO entsprechend (siehe Kasten), sind auch in der Sprachförderung die Wechselwirkungen zwischen umwelt- und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen. Das gilt besonders bei zwei- oder mehrsprachig aufwachsenden Kindern (Wilken, 2022c).

Die erheblichen Unterschiede in der individuellen Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom werden im Schulalter noch deutlicher. Auch die sprachlichen Kompetenzen weisen eine zunehmende Streubreite auf. Während einige Kinder sehr gut sprechen, verständigen sich viele noch überwiegend mit Einwortsätzen und einige benötigen alternative Kommunikationsformen. Die weitere sprachliche Förderung orientiert sich daher an den individuellen Kompetenzen und Förderbedürfnissen, aber auch an altersspezifischen Interessen und Reifungsprozessen.

 

Gebärden-unterstützte Kommunikation

 

Die Gebärden-unterstützte Kommunikation ist ein Verfahren, das sich an kleine hörende Kinder wendet, die noch nicht sprechen können (Wilken, 2000). Der Begriff soll die besondere Zielsetzung im Unterschied zur Gebärdensprache für Gehörlose verdeutlichen. Kinder mit Down-Syndrom, die hören können und sprechen lernen sollen, benötigen bereits präverbale Hilfen zur Förderung basaler kommunikativer Kompetenzen. Dabei ist zu beachten, dass ihre lautsprachliche Orientierung in der frühen Entwicklung nicht gefährdet wird.

Gebärden haben für diese Kinder keine die Lautsprache ersetzende, sondern eine unterstützende Funktion. So kann man dem Kind beispielsweise das Lätzchen zeigen (Mitteilen mit einem Objekt) und sagen: »Wir wollen jetzt essen.« Parallel wird dazu die Gebärde für Essen gemacht als visuelles Zeichen. Entsprechend kann man den Schlafsack oder die Windel zeigen, dazu gebärden und sprechen. So unterstützen Gebärden anfangs vor allem das Verstehen. Dabei bietet auch die begleitende Prosodie – das bedeutet, wie wir etwas sagen und betonen – eine wesentliche kommunikative Orientierungshilfe (Grimm 2012, 23). Etwa mit einem Jahr lernen die meisten Kinder mit Down-Syndrom dann auch, sich zunehmend mit einzelnen Gebärden mitzuteilen.

Seit vielen Jahren hat sich gezeigt, dass GuK die Kommunikation mit Kindern, die (noch) nicht sprechen, erleichtert und das Sprechenlernen nicht beeinträchtigt. Die Gebärden können uns aber »ein Fenster zum Denken des Kindes« bieten. Auch basale sprachrelevante »Vorausläuferfähigkeiten« (Grimm 2012, 25) sind mit Gebärden zu vermitteln und können die kognitiven Grundlagen des Spracherwerbs unterstützen.

Bei der Auswahl der GuK-Gebärden aus dem Verzeichnis der Deutschen Gebärdensprache wurden die motorischen Fähigkeiten kleiner Kinder bei schwierigen Fingerstellungen berücksichtigt. Verzichtet wurde auf die für Gehörlose wichtige Mundgestik und Inkorporation, während die natürliche Mimik und die Prosodie wesentliche Rollen spielen. Weil nur einzelne bedeutungstragende Wörter mit Gebärden begleitet werden, gibt es auch keine Veränderungen in Syntax und Grammatik. Die für das Verständnis der Gebärden nötigen kognitiven Voraussetzungen werden bei GuK beachtet und deshalb wurden möglichst transparente Gebärden ausgewählt, die leichter gelernt und behalten werden können. Das gilt für die Kinder, aber auch für die Bezugspersonen, weil im Unterschied zu Wörtern viele Gebärden durch die Übernahme eines kennzeichnenden Merkmales des jeweiligen Begriffes leicht zu verstehen sind (Ball = mit den Händen die Rundung formen; trinken = so tun als ob). Deshalb müssen jedoch einige Begriffe kontextabhängig verschieden gebärdet werden, beispielsweise ob ein Buch oder eine Person dick ist.

 

Das Mitteilen erleichtern

 

Die Gebärden bei GuK haben die Aufgabe, nur so lange die Kommunikation zu unterstützen, bis das Kind hinreichend sprechen kann. Oft repräsentieren die GuK-Gebärden ein größeres Begriffsfeld. Die Gebärde für »gut« kann eingesetzt werden für »Lob« und sprachlich unterschiedlich begleitet werden, beispielsweise mit: »Das hast du gut gemacht« oder »super«. Gleiches gilt für Tadel, Verbot oder für Fertig beziehungsweise Schluss, Ende, Aufhören. Das begleitende Sprechen und die Prosodie ermöglichen dann die entsprechende Differenzierung (»Hör auf!« oder »Jetzt sind wir fertig!«). Gebärden haben nachweislich keine negativen Auswirkungen auf den Spracherwerb, sondern können, im Gegenteil, das Lernen sprachrelevanter Fähigkeiten unterstützen (Wagner & Sarimski, 2013).

Bei zweisprachig aufwachsenden Kindern kann GuK das Verstehen unterstützen, eine Brücke zwischen beiden Sprachen bieten und das Mitteilen erleichtern (vgl. Wilken, 2022, 206 ff.).

Die langjährigen Erfahrungen mit Guk zeigen, dass diese Gebärden Kindern mit Down-Syndrom, aber auch anderen Kindern, die Schwierigkeiten beim Spracherwerb haben, eine wesentliche Hilfe zur Kommunikation bieten. Ein Beispiel vermag das zu zeigen: Ein dreijähriger, noch nicht sprechender Junge mit Down- Syndrom wird von der Mutter gefragt, was er machen möchte. Er antwortet mit drei Gebärden »Brot«, »Gehen«, »Ente«. Er kann mitteilen, dass er zum Enten-Füttern gehen will.

Rubrik: Ausgabe 02/2024

Vom: 25.01.2024