Perinatale psychische Erkrankungen

»Jeder dachte, der andere sei zuständig«

Es ist keine Seltenheit, dass Frauen rund um die Geburt psychisch erkranken. Und doch werden viele Fälle nicht erkannt. Was ist wichtig für die Versorgung betroffener Frauen? Eine qualitative Studie aus der Schweiz ist den Bedürfnissen von Frauen auf den Grund gegangen, die an einer perinatalen psychischen Erkrankung leiden. Auch Fachkräfte konnten ihre Perspektive einbringen. Dr. Anke Berger

Von der Schwangerschaft bis zum Ende des ersten Jahres nach der Geburt sind bis zu 20 % der Frauen von einer psychischen Krankheit betroffen. Diese Periode wird im Kontext psychischer Erkrankungen Perinatalzeit genannt. Eine erhöhte mütterliche Morbidität und negative geburtshilfliche Outcomes (Frühgeburt, ungeplante Sectio, vaginale Geburt mit Komplikationen) können Begleiterscheinungen von perinatalen psychischen Erkrankungen (PPE) sein. Wenn PPE nicht behandelt werden, können sie auch die psychische und kognitive Entwicklung der Kinder beeinträchtigen und zu hohen sozioökonomischen Folgekosten führen. Die rechtzeitige Erkennung und Therapie von PPE durch geschulte Fachpersonen ist daher von entscheidender Bedeutung (Sambrook Smith et al. 2019; Berger 2017a, 2019).

 

Die Daten sprechen für sich

 

Eine Analyse von Schweizer Krankenkassendaten aus den Jahren 2012 und 2013 zeigte, dass etwa jede sechste Frau in der Perinatalzeit (17 %) wegen PPE behandelt wird (Berger et al. 2017a, b). Vor allem Hausärzt:innen, Psycholog:innen und Psychiater:innen diagnostizierten PPE. Gynäkolog:innen und freiberufliche Hebammen identifizierten PPE im Rahmen der ambulanten und stationären perinatalen Versorgung nur selten (bei maximal 2 % der Betreuten), vermutlich weil ihnen Überweisungsmöglichkeiten unklar waren (Viveiros & Darling 2019). Um herauszufinden, ob die Versorgung in der Schweiz den Bedürfnissen der Frauen entspricht und aus fachlicher Perspektive adäquat ist, wurden von PPE betroffene Frauen und Fachpersonen in qualitativen Interviews befragt. Ziel der Studie war es, Faktoren für eine geeignete Gesundheitsversorgung bei PPE zu identifizieren.

 

Erfahrungen und Bedürfnisse

 

16 Frauen wurden einzeln zu ihren Erfahrungen und Bedürfnissen in Bezug auf die Gesundheitsversorgung bei PPE befragt. Die Frauen hatten in der letzten Perinatalzeit eine psychiatrische Diagnose und Behandlung wegen Depression, Angststörung, posttraumatischer Belastungsstörung, Verhaltensstörung, Suchterkrankung oder psychotischen Symptomen erhalten.

83 % der Frauen hatte bereits vor der letzten Schwangerschaft psychische Probleme und somit bereits Erfahrung mit der Behandlung. Zum Zeitpunkt des Interviews lag die Geburt etwa ein Jahr zurück und die Frauen waren psychisch gesund oder stabil.

In drei Fokusgruppeninterviews wurden darüber hinaus insgesamt 20 Fachpersonen zu ihrer Sichtweise auf die Gesundheitsversorgung bei PPE befragt. Sie arbeiteten in der Geburtshilfe als Hebammen oder Gynäkolog:innen, in der Pflege, Sozialarbeit, Psychiatrie (einschließlich Klinikdirektoren), Psychologie, Hausarztmedizin und Pädiatrie. 95 % hatten Erfahrungen mit der Betreuung bei PPE. Die Fachpersonen waren im ambulanten oder stationären Bereich tätig (Berger et al. 2020). Zitate der Teilnehmer:innen aus den Interviews sind im Folgenden durch Kursivschrift gekennzeichnet

 

Differenzierte Berichte

 

Die ehemaligen Patientinnen berichteten differenziert und umfassend über ihre Selbstwahrnehmung, das Verhalten der Gesundheitsversorger:innen, das Gesundheitssystem sowie hilfreiche Angebote.

 

Informiertheit, Transparenz

Den Frauen fehlte Orientierung über ihre Situation wegen unzureichender Transparenz und Information durch die Fachpersonen. Dies betraf auch Frauen, die Vorerfahrungen mit psychischen Erkrankungen hatten. Das fehlende Wissen führte zum Erleben von Kontrollverlust und Stress und wurde als Risiko für eine Verschlimmerung der PPE beschrieben. Die Frauen vermissten Beratung und Unterstützung über den Einfluss der PPE auf die Schwangerschaft und Geburt und die Adaptation an die neue Lebenssituation als Mutter. Frauen, die eine Frühgeburt oder einen Kaiserschnitt erlebt hatten, fühlten sich diesbezüglich schlecht unterstützt.

»… [es braucht] viel mehr Informationen darüber, was passieren kann, was zum Beispiel eine postnatale Depression bedeutet. Oder mit der eigenen Diagnose, was passieren kann. Was die Warnzeichen sein können. Wie man einen Krisenplan macht, wie man dann in dem Moment damit umgeht.«

Es wurde festgestellt, dass gesunde Frauen eventuell keine detaillierten Informationen über PPE erhalten wollten.

 

Stigma

Die Frauen berichteten, dass ihr Umgang mit der Krankheit und ihr Verhalten gegenüber Fachpersonen stark von der gesellschaftlichen Erwartung geprägt war, eine glückliche und funktionierende Mutter zu sein. Sie empfanden einen großen Druck, diesem Bild zu entsprechen. Scham- und Schuldgefühle führten zur Selbststigmatisierung. Sie erlebten auch Stigmatisierung durch ihre Familie, das soziale Umfeld oder Fachpersonen. Um diese zu vermeiden, maskierten sie ihre Beschwerden, was ihrer Meinung nach den Zugang zur Therapie und den Verlauf ihrer Erkrankung negativ beeinflusste.

 

Kontakt zum Kind

Frauen bezeichneten eine Gesundheitsversorgung, die eine positive Eltern-Kind-Beziehung behinderte, als nachteilig für ihre Gesundung. Dazu gehören beispielsweise die Trennung von ihrem Neugeborenen aufgrund der Verlegung in die Neonatologie, die Einnahme starker Psychopharmaka, die sie für ihr Kind weniger verfügbar machten, Klinikaufenthalte ohne Kind oder der mögliche Entzug des Sorgerechts. Die Gegenwart des Kindes wurde vielfach als Ressource für die Gesundung erlebt, auch bei ambivalenten Gefühlen ihm gegenüber. Manche Frauen erlebten es als angsterregend, mit ihrem Kind alleine zu sein. Unterstützung bei der Kinderbetreuung wurde generell als sehr hilfreich beschrieben.

 

Strukturelle und organisatorische Defizite der Versorgung

Die Betroffenen beschrieben lange Wartezeiten für Behandlungen, vor allem für auf die Perinatalzeit spezialisierte psychiatrische oder psychologische Behandlungen. Es wäre aus ihrer Sicht hilfreich gewesen, zur Überbrückung der Wartezeit eine Fachperson als Kontaktperson zu haben. Durch häufigen Wechsel der Betreuer:innen fehlte eine Bezugsperson, die ihnen Halt im komplexen Behandlungsverlauf und Versorgungssystem gegeben hätte.

»Was schwierig war, war die Abstimmung zwischen dem Gynäkologen und der Psychiatrie, (…) der Gynäkologe war der Meinung, die Psychiaterin solle sich bei ihm melden, und die Psychiaterin hat gesagt, der Gynäkologe könne bei ihr anrufen, und ich habe dies beiden gesagt, aber niemand hat es gemacht, jeder dachte, der andere sei da zuständig …«

Fehlendes Wissen im psychiatrischen Notfalldienst wurde als problematisch erlebt:

»… ich mich selbst in die Psychiatrie eingeliefert habe, weil ich einfach das Gefühl hatte, …ich halte das nicht mehr aus, ich weiss NICHT, wie ich das bewältigen soll. … Dort hat der Psychiater auch nicht gewusst, was er mit mir anfangen sollte. Er hat mir so ein 08-15-Formular gegeben, haben Sie Stimmungsschwankungen, haben Sie … Herzklopfen ... einfach das Standardformular, das man den Patienten gibt zum Herausfinden, ob sie irgendwie depressiv sind oder so. … Nachher haben sie mich wieder nach Hause geschickt, weil sie nicht gewusst haben, was sie mit mir machen sollen.«

 

Bedarf an vielseitiger Unterstützung

Die Interviewten vermissten das Aufzeigen verschiedener Versorgungsangebote durch die Fachpersonen. Außer medikamentösen und Psycho- Therapien hielten sie körperbezogene Angebote sowie Alltagsunterstützung für wichtig. Die spezifischen Bedürfnisse einer Frau herauszufinden und zu realisieren, sei eng mit einer guten Beziehung zu den Fachpersonen verbunden. Der Erfolg eines Angebotes beruhe vor allem auf einem guten Kontakt und der guten Erreichbarkeit der anbietenden Person.

»... [die Therapeutin hatte] einen somatischen Erfahrungshintergrund, aber auch einen Meditationshintergrund. Das sind einfach so grundlegende Übungen, um das ganze System ein bisschen aus diesem Überlebens- und Stressmodus herauszuholen.«

Die Frauen beschrieben häufig ihre Familie als hilfreich bei der Bewältigung der gesamten Situation. Insbesondere die Partner wurden als wichtige Unterstützer hervorgehoben.

 

Selbstwirksamkeit

Die Frauen nannten als zentralen Faktor für die Gesundung ihre eigenständige Suche und Kontaktaufnahme zu Fachpersonen, die direkte Kommunikation über ihre psychischen Schwierigkeiten mit Partner:innen, Familie und Fachpersonen. Weiter waren eine selbstorganisierte Alltagsstrukturierung, Selbstaktivierung, Selbstfürsorge, die Aufgleisung sozialer Unterstützung im Alltag sowie die kontinuierliche Inanspruchnahme der Therapie für den Umgang mit der PPE notwendig und förderlich.

 

Perspektive von Fachpersonen

 

Ressourcen

Die Fachpersonen erachteten die verfügbaren Ressourcen für spezialisierte Versorgung als ungenügend, beispielsweise Tageskliniken, Präventionsangebote, Familieninterventionen, Mutter-Kind-Einrichtungen sowie niederschwellige Angebote. Sie konstatierten eine Unterversorgung der Betroffenen. Allerdings wurde die Vorhaltung spezialisierter stationärer Mutter-Kind-Angebote in hoher Zahl aus Kostengründen für unrealistisch gehalten.

»Natürlich wäre es wünschenswert, mehr … stationäre Mutter-Kind-Einheiten zu haben … man muss einfach mit den Ressourcen, die man hat, besser umgehen, … Also wir haben schon sehr viel, das Problem ist eher, dass die Expertise fragmentiert ist und … dann für den Einzelnen jeweils nicht so spürbar ist, was alles möglich wäre… Und man muss auch verstehen, dass … diese Mutter-Kind-Einheiten, dass …. da … eine Schwelle zu überwinden ist und …die Mütter nicht unbedingt so begeistert sind, stationär irgendwo hinzugehen.«

Für die Vermeidung von langen Wartezeiten wurden Ambulatorien und für die längerfristige Unterstützung zu Hause ambulante Helfernetzwerke als sinnvolle Angebote erachtet:

»Wir sind ausgegangen von der Frauenklinik, die Schwangere sehen und ein Bedürfnis haben, die irgendwie weiterzuvermitteln. … eine gute weitere Drehscheibe wären … psychiatrische Ambulatorien, die … zumindest innerhalb der…Büroöffnungszeiten in der Lage wären, einen Termin anzubieten. Natürlich an der Universität sollte es auch innerhalb dieser Ambulatorien ein spezifisches [geburtshilfliches] Fachwissen haben. Diese Ambulatorien … dass man dort … nicht auf einen Anrufbeantworter spricht, sondern jemanden erreicht …Und dass sie auch einen Sozialdienst haben, der auch noch schaut, … was kann man sonst noch an Hilfen organisieren … eine Spezialsprechstunde innerhalb des Ambulatoriums, wo man dann sofort auch einen Zugang haben kann.«

»… aus der Betroffenenperspektive wäre es am liebsten so, ich habe einen profunden Arzt, der sich auskennt, ich habe Hilfspersonen, die mir helfen, in meinen Haushalt kommen, die mir sagen, wie ich das nachts mit dem … schreienden Kind mache, die mir beim Stillen helfen … und so weiter. Also ein ambulantes Helfernetzwerk wäre, glaube ich, am kundenfreundlichsten … .«

Die Fachpersonen berichteten, dass bei Gesundheitsversorgern generell wenig spezialisiertes Fachwissen zur Erkennung einer PPE vorhanden sei. Es wurde bemerkt, dass akademisch ausgebildete Fachpersonen sich das nötige Fachwissen auch selbst aneignen könnten.

 

Systematisches Screening

Die Fachpersonen stellten fest, dass eine systematische umfassende Anamnese und Diagnostik (Symptome und Risikofaktoren) einer PPE während des gesamten geburtshilflichen Behandlungsverlaufs fehlt. Eine frühzeitige Symptomerkennung und Aufgleisung einer spezifischen Behandlung und Nachsorge sei wichtig. Risikofaktoren für PPE und leichte Symptome seien nicht Teil des Diagnosesystems, weshalb viele Frauen keine präventive Beratung und Unterstützung erhielten.

Die Früherkennung sei für nicht auf psychische Erkrankungen spezialisierte Fachpersonen schwierig, weil diese nicht zwischen physiologischen Anpassungsreaktionen an die Perinatalzeit und Symptomen einer PPE unterscheiden könnten. Außerdem drückten sich PPE häufig durch somatische Beschwerden oder besondere Verhaltensweisen aus (beispielsweise häufige Besuche bei der Kinderärztin oder dem Kinderarzt ohne Krankheitsbefunde beim Kind).

Ein wichtiges Hindernis für systematisches Screening wurde thematisiert:

»Kein Screening funktioniert, wenn derjenige, der screenen soll, anschließend nicht weiß, was er mit demjenigen machen soll. Er macht die Augen zu und sagt, besser nicht fragen.«

 

Transferable Skills der Fachpersonen

Eine vertrauensvolle Beziehung wurde als wichtiger Faktor für die Versorgung beschrieben. Fachpersonen müssten sich um eine solche Beziehung aktiv bemühen, um Betroffenen die Angst vor Stigmatisierung oder behördlichen Sanktionen zu nehmen und ihnen zu helfen, ihre Schwierigkeiten und Symptome mitzuteilen. Als hilfreich bei der Betreuung wurden die Orientierung an den Ressourcen der Patientinnen sowie pragmatische Behandlungslösungen beschrieben.

Hausbesuche ermöglichten einen Einblick in die Situation der Betroffenen und ihrer Familien und eröffneten Möglichkeiten zum Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung.

 

Interprofessionalität

Es wurde festgestellt, dass die Fachpersonen in der Regel nicht vernetzt und über die Angebote anderer Versorgungsbereiche nicht informiert sind. Dies erschwere direkte Überweisungen von Patientinnen sowie die Übergabe von wichtigen Informationen zwischen verschiedenen Dienstleister:innen:

»… dann hat man eben eine Arbeitsgruppe für perinatale affektive Störung gehabt und ... alle [lokalen] Akteure… an einen Tisch gebracht und dann haben wir einen Zuweiser-, Screening- und Interventionsweg formuliert. Was sind die ersten Anlaufstellen, was kommt danach … und so weiter … also eine Zuweisung wird erleichtert, wenn man sich kennt, wenn man ein Netzwerk hat und das Netzwerk pflegt. Ein Behandlungsverlauf wird einfacher, wenn die Behandlungsabläufe geklärt sind …«

Nicht spezialisierte Fachpersonen könnten durch regelmäßige Gesprächs- und Beziehungsangebote die Wartezeiten auf eine spezialisierte Behandlung überbrücken.

Die interprofessionelle Kooperation wurde aber auch als große Herausforderung gesehen:

»… da gibt es Stillberaterinnen, … Hebammen, … Erziehungsberater, … die [ambulanten Pflegedienste], … einen Kinderarzt. … [Es ist] eine große integrative Leistung und eine große Herausforderung, dass diese Akteure dann auch miteinander kommunizieren … Man weiß, je mehr Leute involviert sind, desto weniger passiert, weil jeder sagt ja, es sind genug andere da … .«

 

Schlussfolgerungen

 

Die weitgehend übereinstimmenden Äußerungen von ehemaligen Patientinnen und Fachpersonen zeigen konkreten Handlungsbedarf zur Erkennung von PEE und zur interprofessionellen Betreuung von betroffenen Müttern.

  • Die Früherkennung ist sehr wichtig und dafür müssen standardisierte Verfahren implementiert werden. Diese Verfahren sollten unterschiedliche soziokulturelle und gesundheitliche Voraussetzungen der Betroffenen berücksichtigen.
  • Hebammen und Gynäkolog:innen sollten Symptome von PPE bei Müttern erkennen können, die nicht aktiv Hilfe suchen, und umfassend beraten können. Angehörige der Betroffenen sollten in Beratungen einbezogen werden.
  • Gesundheitsfachpersonen sollten sich das nötige Fachwissen für den Umgang mit betroffenen Frauen aneignen. Institutionen könnten entsprechende Kompetenzprofile für Mitarbeiter:innen entwickeln.
  • Fachpersonen sollten sich auf lokaler Ebene vernetzen, um Behandlungswege und Regeln für die interprofessionelle Zusammenarbeit mit klarer Fallführung zu definieren, beispielsweise durch eine spezialisierte Hebamme.
  • Behandlungen, die die Mutter-Kind-Beziehung fördern, sollten einbezogen werden.
  • Staatliche Public-Health-Maßnahmen zur gesellschaftlichen Aufklärung über PPE sind wichtig, um stigmatisierenden Haltungen entgegenzuwirken.

 

Studie

An der Studie »Perinatal mental health care from the user and provider perspective: a qualitative study in Switzerland (MADRE)« haben Dr. Anki Ging, Naina Walia und Dr. Karin Schenk mitgearbeitet. Die Autorin dankt den Studienteilnemer:innen und -mitarbeiter:innen für ihre wertvollen Beiträge.

Rubrik: Ausgabe 04/2022

Vom: 07.04.2022