Fürsorge und Selbstsorge

  • Anna ist eine selbstbewusste, sensible und kluge junge Frau mit besten Abiturnoten. Sie will Hebamme werden und sie schafft es, einen der wenigen begehrten Ausbildungsplätze zu bekommen. Voller Freude ist der Anfang in der Schule. Was sie dann beim ersten Praxiseinsatz in der Klinik erlebt, ist erschütternd: Hebammen, die es nicht ertragen können, die Schülerinnen mit all ihrem Idealismus zu erleben. Als junge Frauen, die ihnen den Spiegel vorhalten. Diejenigen, die zeigen sollten, was es bedeutet, eine Hebamme zu sein, verängstigen, degradieren und demütigen die Nachkommenden. Leider werden Hebammen auch heute noch auf diese Weise sozialisiert – von Frauen aus der eigenen Berufsgruppe, die ihre Erfahrungen nicht reflektiert und bearbeitet haben. Verstörend.

    „Ich bin als aufrechter Mensch in diese Ausbildung gegangen und war fast gebrochen, als ich sie verlassen habe", erzählt Anna. Nach drei Monaten kann und will sie nicht mehr. Sie bricht die Ausbildung ab – der lang­ersehnte Berufswunsch wurde zum Albtraum. Schade für all die Frauen, denen sie mit Sicherheit eine gute Geburtsbegleiterin geworden wäre.

    Hebammen und Macht – ein großes Feld! Das hierarchische System der Klinik ist prädestiniert dafür, dass hier berufsspezifische Traumatisierungen und Machtverhältnisse von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Dies spiegelt nicht zuletzt die gesellschaftliche Position unserer Berufsgruppe wider, die gerade so sehr darum kämpfen muss, zu überleben.

    Zum Glück gibt es auch andere Modelle des Zusammenarbeitens in der Klinik: Hebammenteams, die es auch in schwierigen Zeiten mit hoher Arbeitsverdichtung schaffen, ein menschliches Klima und einen würdigen Umgang miteinander herzustellen. Wichtige Elemente dabei sind: eine kompetente Leitung, der die Sorge für das Wohl der Kolleginnen am Herzen liegt, ein offener angstfreier Umgang mit Fehlern und eigenen Schwächen. Ein Team, das an einem Strang zieht, gemeinsame Fortbildung, ausreichend Zeit zur Regeneration, der beharrliche Einsatz für eine Verbesserung der Personalsituation und die Freude über erreichte Veränderungen. Der Schlüssel dazu ist das harmonische Zusammenspiel von Fürsorge und Selbstsorge. Nur ein Team, in dem die Leitung für die Kolleginnen und diese füreinander und für sich selbst sorgen, kann die große Aufgabe meistern, fürsorglich mit den Frauen, Paaren und Kindern umzugehen, die ihnen anvertraut sind. Wir sind es ihnen und uns schuldig.