Urbild einer Geburt
Die Art und Weise, wie Maria ihren Sohn Jesus zur Welt brachte und willkommen hieß, ist das Urbild einer ungestörten Geburt. Wir haben es jedes Jahr zur Advents- und Weihnachtszeit vor Augen. Frédérick Leboyer, Geburtshelfer aus Frankreich, der seit den 1970er Jahren für eine „Geburt ohne Gewalt“ eintritt, hat in seinem Bildband „Das Fest der Geburt“ Darstellungen von Maria und ihrem Kind aus früheren Jahrhunderten zusammengestellt, die eine andere Sicht auf die Geburt zeigen, als die, die wir heutzutage gewohnt sind. Michel Odent, ebenfalls französischer Geburtshelfer, erwähnt immer wieder gerne, dass hier in der christlichen Kultur ein Bild für „privacy“, für die notwendige Intimsphäre bei der Geburt überliefert ist – die Abgeschiedenheit im Stall, wenig Licht, die beruhigende Anwesenheit der Tiere. Eine vollendete Situation, in der die Hormone der Geburt ihre Wirksamkeit entfalten konnten und Maria ungestört war, um sich für ihr Kind zu öffnen.
Als meine Mutter mich Heiligabend vor fast 50 Jahren auf die Welt brachte, lag sie stundenlang allein auf einem Kreißbett in den Wehen. Gerne hätte die Erstgebärende eine vertraute Person bei sich gehabt, die ihr gegen die starken Rückenschmerzen das Kreuz gehalten hätte. Als ich schließlich geboren wurde, war sie plötzlich umringt von zwei Hebammen und einer Ärztin, die sie, wie damals üblich, zum „Pressen“ anfeuerten. Nicht nur einen Dammschnitt, auch einen Dammriss dritten Grades trug meine Mutter davon. Erstaunlich, dass sie mir immer nur von ihrem Glück bei meiner Geburt erzählt hat – in meiner Kindheit meine alljährliche persönliche Weihnachtsgeschichte zur Geburtstagsfeier am Morgen: Wie gut sie durch ihre erlernte Atemtechnik mit den Wehen zurecht gekommen war, von ihrem Hochgefühl, als ich da war und wie ich ausgesehen habe – und dass ein appetitlicher Duft vom Weihnachtsbraten durch die Klinik zog. Von den Schattenseiten dieser Geburt erfuhr ich später. So bin ich eher mit einem Bild von Geburt groß geworden, das die Weihnachtsdarstellungen zeigen, als mit einer „modernen“ medizinischen Vorstellung vom Kinderkriegen.
Aus heutiger Sicht, im Zeitalter von Risikoangst, 30 Prozent Kaiserschnitten und einem Misstrauen vor allem Unkontrollierten bei einer Geburt, scheint meine Mutter noch glimpflich davon gekommen zu sein, wenngleich sie weder „privacy“ noch Hebammenkunst erlebt hat. Diese Dezemberausgabe handelt von meisterlicher Zurückhaltung, von Zeit und Geduld, vor allem davon, wo Hebammen und ÄrztInnen nach aktuellem Stand der Forschung auf überflüssige und schädliche Störungen des sich selbst regulierenden Geburtsablaufs verzichten sollten. Wie schön wäre es, wenn die alten Bilder der heiligen Nacht sich wieder mit unserem heutigen Verständnis von Geburtshilfe verbinden würden – nicht nur in vereinzelten Ausnahmen. Ihnen eine besinnliche Weihnachtszeit auch in diesem Sinne, kommen Sie gestärkt ins Neue Jahr!