Kosmos Kreißsaal
Wenn du als Hebamme eine neue Stelle antrittst, begibst du dich in einen eigenen kleinen Kosmos, der seine eigenen Strukturen und Regeln pflegt. Idealerweise sollten die Grundprinzipien überall gleich sein, wie Arbeiten nach klaren evidenzbasierten Standards, ein Leitbild, nach dem die Betreuten und ihre seelische und körperliche Gesundheit im Mittelpunkt stehen und ein Fehler- und Qualitätsmanagement, das nicht nur auf dem Papier existiert.
Als ich vor einiger Zeit vorübergehend in einem Klinikkreißsaal aushalf, wurde ich in die Ambulanz gerufen. Die diensthabende Ärztin, die ich noch nicht kannte, nahm eine Schwangere mit leichten Unterleibsschmerzen im zweiten Trimenon auf. Nach der Anamnese folgte eine endlose und offensichtlich für die Frau äußerst schmerzhafte vaginale Untersuchung. Ich stand dabei und konnte nicht einschätzen, was der Grund für dieses Verhalten der Gynäkologin war. War der Muttermund schlecht erreichbar? War die Frau sehr verspannt? Die gestresst wirkende Ärztin wühlte immer tiefer in der Vagina, während die Frau krampfhaft versuchte stillzuhalten. Ich hielt ihre Hand und fragte mich, ob ich intervenieren sollte oder durfte. Niemand sagte ein Wort. Als die Ärztin ihren unauffälligen Befund dokumentiert und den Raum verlassen hatte, sprach ich die Schwangere an und fragte sie, wie es ihr gehe. Nun weinte sie und sagte, die Untersuchung sei unglaublich grob und schmerzhaft gewesen. Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich nichts gegen diese übergriffige Behandlung unternommen hatte. Ohne dass es eine bewusste Entscheidung gewesen war, hatte ich Vernunft und Anstand heruntergeschluckt und mich den Hierarchien an diesem Arbeitsplatz unterworfen. Die Kolleginnen sagten mir später, die Ärztin sei öfter grob und recht unfähig, hätte aber zum Glück selten Dienst. Alle schienen zu wissen, dass sie die Frauen schlecht versorgte, aber das hatte – wohl auch wegen des akuten Ärzt:innenmangels – keinerlei Konsequenz.
Es gab keinen Standard oder keine Leitlinie, die mir etwas an die Hand gaben, wie ich mich bei Fehlverhalten von Vorgesetzten verhalten sollte. Doch irgendwie wusste ich auch, dass das auch nicht erwünscht war.
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