Tanz der Generationen

Im Laufe der Jahrzehnte wandelt sich die Welt, in der die Menschen leben. Möglichkeiten und Technik wachsen, Berufs- und Rollenbilder ändern sich und auch die Wünsche, Ängste und Ansprüche in der Geburtshilfe verändern sich. Ein Blick auf die verschiedenen Generationen schafft einen Zusammenhang zwischen den Überzeugungen der Menschen und der Entwicklung der Geburtshilfe – zu aktuellen Problemen, aber auch Chancen. Ulrike Bleyl

In den 1980er Jahren gab es nur einen richtigen Arbeitsort für eine Hebamme – das war der Kreißsaal. Die Spezialisierungswelle der 1960er Jahre in der Medizin hatte auch den Hebammenberuf spezialisiert, nämlich auf die Geburtshilfe. Für die älteren Hebammen dieser Zeit muss das irritierend und unvorstellbar gewesen sein – für mich war das bereits selbstverständlich. Die Hebammen der letzten Jahrzehnte haben es geschafft, die Spezialisierung aufzuheben und die alte Ganzheitlichkeit unserer Berufung zurückzufordern. Und doch hat sich für uns alle noch so viel mehr geändert. Wir scheinen heute auf eine andere Art zersplittert und spezialisiert. Doch das scheint nicht erst heute so zu sein. »Wir leben in einer Welt der zerbrochenen Zeit und der zerbrochenen Aufmerksamkeit«, schreibt der Medienforscher Neil Postmann bereits 1988 und stellt fest: »So bewegen wir uns mit hohem Tempo in eine Informationsumwelt hinein, die man mit vollem Recht als trivial pursuit, als trivialen Zeitvertreib, bezeichnen kann.« Sind wir heute in dieser Informationsumwelt gelandet? Hat dies den Umgang zwischen den Generationen verändert, den Umgang zwischen jungen und erfahrenen Hebammen? Sind wir gefragt, unseren Beruf neu zu denken, und welcher Spur könnten wir folgen? Ich möchte hier versuchen, dem Gebrochen-Sein, von dem Postmann spricht, auf die Schliche zu kommen, und ihm etwas entgegensetzen.

 

Der heutige Gipfel der Wünsche?

 

Junge und angehende Hebammen, geboren in der sogenannten Generation Z (1996–2010), wollen nicht mehr gerne in die Freiberuflichkeit, so die Generationsforschung. Auch scheint ihr Wunsch nach Teilzeit-Arbeit höher. Glaubt man der einschlägigen Literatur, »ist der Pragmatismus früherer Generationskohorten einer anspruchsvollen sowie diffizilen Sinnorientierung gewichen.« (Wunderlin 2021, S. 13). So soll der Beruf Spaß machen, sicher, sinnvoll sowie selbsterfüllend sein. Aber auch ein gutes Arbeitsklima, Work-Life-Balance, persönliche Wertschätzung, Weiterentwicklungsmöglichkeiten stehen auf der Prioritätenliste der Generation Z. Als Ursache dieser neuen Priorisierung beschreibt die Literatur, dass die Eltern dieser Generation bereits individuell orientiert sind. Dies trägt dazu bei, dass bei Generation Z »der Traditionalismus und die Konformität immer mehr abnehmen«. Sie grenzen sich kaum von den Eltern ab, »streben keine Gegenkultur an und orientieren sich am Lebensstil der Eltern« (Wunderlin 2021, S. 13). Soweit das Modell, doch finden wir das auch in unserem Arbeitsfeld?

Im Mai 2022 machte der Deutsche Hebammenverband (DHV) eine Umfrage, um auf die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus aufmerksam zu machen. Er stellte fest: »Selbst junge und werdende Hebammen resignieren im Laufe ihrer Ausbildung.« Weiter hinten findet sich eine Aussage von Nina Negi, Hebammenauszubildende im letzten Lehrjahr in Berlin und Vertreterin der Jungen und Werdenden Hebammen (JuWeHen) für die Regionen Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern: »Laut Umfragen, die die JuWeHen bundesweit durchführten, wünschen sich mehr als die Hälfte aller werdenden und Junghebammen in ihrem klinischen Kreißsaalalltag mehr Wertschätzung, Respekt und Integration. (…) Auch die Einführung einer Fehlerkultur, die ein angstfreies Lernen möglich macht und allen Beteiligten ermöglicht, sich gemeinsam kontinuierlich zu verbessern, wird gefordert.« Ich bin irritiert und frage mich, ist das der Gipfel der Wünsche heutiger angehender und junger Hebammen, individuelle Forderungen an die Älteren zu stellen? Ist es das, was die Generationsforschung mit »diffiziler Sinnorientierung« von Generation Z meint?

Ich sitze mit zwei Hebammenstudentinnen im vierten Semester zusammen. Unser Austausch ist rege und spannend. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, stellen viele Fragen und staunen, dass ich in meiner Ausbildung ausschließlich mit dem Holzstetoskop gelernt habe, die Leopold-Handgriffe Standard waren und ich mit 17 Jahren meinen ersten Dammschutz hatte. Ich staune über ihr Wissen, über die verschiedensten Module, die sie haben, ihre Begeisterung an der Arbeit und frage sie, was ihnen denn wichtig ist. Sie wünschen sich mehr Möglichkeiten, mit der betreuenden Hebamme zu reflektieren – warum etwas gemacht wurde unter der Geburt und warum nicht. In ihrem Wunsch liegen Verbindung, Interesse und Wertschätzung für erfahrene Hebammen. Ich freue mich, darum zu wissen.

 

Was sind Generationen und welche gibt es?

 

Generation ist die »Gesamtheit aller zur gleichen Zeit geborenen Menschen«. Doch weil Menschen nicht in Zeitabschnitten geboren werden, fasst die Generationsforschung sogenannte Kohorten zusammen, die in einem Zeitraum von rund zehn Jahren zur Welt kommen. Wissen muss man, dass die Generationenforschung ein Modell ist . Ein Modell ist immer die Nachbildung der Wirklichkeit, es beschreibt sozusagen Phänomene einer Zeit. Und da unser Heute sich auf die alten Phänomene aufbaut, nicht aus der Geschichte ausgetopft angeschaut werden kann, möchte ich einen kurzen Ausflug in die Generationen wagen, auch um besser zu verstehen, wie sehr alle Generationen ihren Beitrag zum Heute geleistet haben und noch leisten, aus welchem Boden Generation Z gewachsen ist und was eine Art neuer Beitrag sein könnte.

Babyboomer

Beginnen wir mit der Generation der Babyboomer (1956–1965): Diese Generation möchte anders leben als ihre Eltern und entwirft eine Art Gegenkultur, die von Werten der Selbstentfaltung, Lebensgenuss und Kreativität geprägt ist. Sie holen die »Meditation« nach Europa und ihre Lebenseinstellung lautet: »Wir retten die Welt« und »Alles ist möglich«. So gab es zum Beispiel in der französischen 1968er-Studentenbewegung den Slogan: »Genießen ohne Grenzen«. Doch nicht alle sahen dies als Befreiung vom Alten. Der französische Psychiater und Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901–1981) mahnte damals, dass ein Genießen ohne Grenzen, ein Genießen ohne Genießen sei, und so die Gefahr bestehe, dass wir genießen müssten, also Genießen zur Pflicht würde. Er warnte vor einer neuen Herrschaft, die aus dieser Bewegung heraus entstehen würde, eine Herrschaft, die als Ermöglichung, Angebot, als Verbesserung daherkommen würde und eine Art barrierefreies Genießen verspricht (Soiland et al. 2022, S. 41). Die Warnung Lacans fand kein breites Echo und so konnte sich diese Genuss-Forderung in den nächsten Generationen weiterentwickeln. Es gab erstaunliche und gute Wandlungen in dieser Zeit, doch möchte ich hier dieser Spur folgen, um zu schauen, ob diese neue Herrschaft im Gewande der Verbesserung, vor der Lacan warnte, uns heute regiert oder anders gesagt, ob der Wunsch nach einem sorgenfreien Leben und die Forderung nach Respekt und Wertschätzung für die Verbesserung nicht bereits die Antwort beinhaltet. Doch erstmal weiter.

Generation X

Generation X (1966–1980) ist mit Langeweile konfrontiert, der sogenannte »Pillenknick« und weniger Hausarbeit gibt ihr neue Freiräume. Sie antwortet mit Individualismus als Wert. Nicht mehr die Welt retten, sondern eigenverantwortlich das eigene Leben möglichst schön gestalten. Sie bereitet den Boden »für Werte wie ›Lebensqualität‹ und ›Worke-Life-Balance‹« Diese Werte sind heute unhinterfragt und ein Selbstverständnis, denn genau in dieser Zeit schwappt das unternehmerische Denken in das private Leben. Die Idee der »Ressource Ich« verbreitet sich in dem Wort »Management«. Zeit-, Familien- und Lebensmanagement-Workshops versprechen Glück, Erfolg und Lebensgenuss. »Das Glück in die eigene Hand nehmen«, wirkte auch in die Schwangerschaften und unsere Arbeit hinein. Was zum Beispiel Ende der 1950er Jahre durch die Lehren der »natürlichen Geburt ohne Schmerzen«, durch Atem- und Körperübungen von Dr. Grandly Dick-Read durch Europa schwappte, erweiterte sich in den 1980er Jahren durch Hypnobirthing – eine neue Form von Geburtsmanagement, wie ich finde. Die amerikanische Pädagogin und Autorin Marie Mongan verspricht eine »blockadenfreie Gedanken-Körpergefühl-Verbindung für eine sanfte, leichte und schöne Geburt« . Selbstbestimmung unter der Geburt ist richtig und wichtig und doch webt sich hier ein Zeitgeist, denn es beginnt »das Postulat permanenter Optimierung« . Das Projekt des »schönen Lebens« wird zur neuen Lebensauffassung und beinhaltet das Versprechen, aus der vorgegebenen Wirklichkeit eine gestaltbare zu machen. »Wissen was man will, bedeutet nun, wissen was einem gefällt.« Das hat Auswirkungen auf unsere Arbeit, zum Beispiel: Die Idee, dass Kinder zu einem selbst gewählten Zeitpunkt Platz im eigenen Leben finden und »schön«, also »Hauptsache gesund« sind – also getestet – gehört zum Projekt des schönes Lebens dazu. Die Haltung dahinter ist: Die gute Hoffnung ist gestaltbar und kann durch Technik, Medizin und zum Beispiel spirituelle Praktiken optimiert werden. Hier öffnet sich ein Raum an Möglichkeiten.

Generation Y

Generation Y (1981–1995) hat eine neue Devise: »Das (Y-)Kind da abholen, wo es steht, mit seinen Stärken, Schwächen. (…) Die Lehrperson wird zum Lehrcoach« (Engelhardt & Engelhardt, 2019, S. 28-34). Aus Möglichkeiten ist eine Galaxie an Möglichkeiten geworden. Und so ist diese Generation ständig vor die Wahl gestellt, im Spannungsfeld von richtig und falsch. Was sie sich heute wünscht, ist ein Nest und Bestätigung, dass sie am richtigen Ort in der Galaxie gelandet ist. Alles ist möglich – die Idee der Babyboomer scheint sich hier zu erfüllen und das nicht nur für Generation Y, sondern für uns alle, denn auch die Hebammenarbeit öffnet ihre Tore in die unterschiedlichsten Bereiche. Workshops und Kurse bieten ewig neue Möglichkeiten, nichts scheint unangeboten, bis eine neue Variation auf den Markt kommt. Die deutsche Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim schreibt: »Der Mensch wird zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muss einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden.«

Wundern wir uns wirklich, warum junge und angehende Hebammen eine andere Art des Arbeitens fordern, alle Möglichkeiten der letzten Generationsbemühungen und Wünsche liegen nun erfüllt vor ihnen: Meditation, Informationsströme, Öffentlichkeit, Individualitätsvielfalt und Lebensmanagement-Angebote, Work-Life-Balance und vieles mehr. Nichts scheint eine Bremse gehabt zu haben und lese ich Ratgeber-Titel wie »Ziele einfacher erreichen«, »Gestalten Sie ihr Arbeitsleben selbst, sonst tun es andere«, »Machen Sie sich unentbehrlich«, liegt auch Wettbewerb in der Luft, in der der Zeitgeist spukt.

 

Der spukende Zeitgeist

 

»Selbstbestimmung«, »Flexibilität«, »bedürfnisorientiertes Arbeiten«, Selbstentfaltung«, ein »sorgenloses Leben« und »Me-Time« – das sind heute ganz selbstverständliche Begriffe. Worke-Life-Balance-Konzepte, die sich derzeit anscheinend in Worke-Life-Integration-Konzepte wandeln, wollen im eigenen Leben umgesetzt werden. Wir sollen den neuen Zeitgeist verinnerlichen, um »nicht wie im Regelfall bisher konsekutiv (zeitlich folgend), sondern situativ-interruptiv zu arbeiten« , so der Management-Experte Matthias Busold. Die Management-Branche spricht von einer neuen Welt, der »VUCA-Welt: Volatility (Volatilität, Schwankung, Unbeständigkeit), Uncertainty (Unbeständigkeit, Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit)«. Schwankend, unbeständig, komplex und mehrdeutig – das klingt nach Stress, nach Zeitgeist-Stress. Und vielleicht fragen wir uns aus diesem Management-Denken heraus, egal ob angestellte oder freiberufliche Hebamme: Sind die schwangeren Frauen, die werdenden Eltern unsere Kund:innen, Klient:innen oder Patient:innen oder begleiten wir sie? Werden wir gebucht? Bei allem, was gut und wichtig ist heute, frage ich mich: Sind wir in die Falle der Ökonomisierung des Menschen oder in die Falle der »Führung der Selbstführung« getappt? Ist die »Mobilisierung von Eigenverantwortung und Selbstbestimmung« etwa kein emanzipatorischer Fortschritt, sondern eine neue Herrschaftsform ? Hat sich Lacans Warnung nun bewahrheitet? Sind Ausrichtungen unserer Arbeit auf Qualitätssicherungs-Richtlinien, Fehlerkultur, Zufriedenheitsbefragungen oder Effizienzsteigerungen nicht auch eine Art von Herrschaft im Kleide des Angebots und der Verbesserung?

 

Selbstoptimierung als Aufgabe

 

Ein Zauberwort der Optimierung ist »Fehlerkultur«. Gemeint ist die präventive Ausrichtung, die das Augenmerk von der Korrektur von Fehlern auf ihre Vermeidung lenkt Und so klingt es natürlich, nach so vielen Jahren Optimierungs-Erzählung, absolut stimmig, wenn sich die Jungen Wehen eine Fehler- und Feedbackkultur wünschen. Doch auch hier sollten wir den kritischen Blick nicht scheuen, denn genau dies kann eine Dynamik der Selbstoptimierung in Gang setzen. So warnt die deutsche Soziologin Susan Krasmann: »Sich selbst so zu sehen, wie andere einen sehen, wird zur Voraussetzung dafür, das aus sich zu machen, was man sein will. (…) Um mithalten zu können, ist es nötig, seine Ressourcen zu erkennen, zu nutzen und auszubauen, sich strategische Ziele zu setzen, diese zu operationalisieren und das Erreichte zu überprüfen (…) kurzum: seinen gesamten Lebenszusammenhang im Sinne betriebswirtschaftlicher Effizienz zu rationalisieren« . Dass die Jungen Wehen eine Fehlerkultur zur Verbesserung fordern und wir sie unkommentiert und widerspruchslos veröffentlichen, kann als Ausdruck der »gebrochenen Aufmerksamkeit« gesehen werden. Gerade die erfahrenen Hebammen wissen um die »Überheblichkeit« der Jugend und um die Bedeutung der Grenzen, an denen ein Ringen passieren muss. Hier nur zu nicken, finde ich fatal und frage mich: Sind wir selbst in die Optimierungsfalle getappt, in der wir ohne Stimme und Tradition an die Kritik der »ewig Gestrigen« glauben?

 

Bedürfnisse im Fokus

 

Im Zuge der Optimierung hat das Wort »Bedürfnis« immer mehr Raum eingenommen, alles Mögliche soll bedürfnisorientiert gestaltet werden. Was ich aufzeigen möchte, ist: Um einen großen Markt an Bedürfnissen zu schaffen, musste im Vorfeld ein Mangel erzeugt und erzählt werden. Hier sind wir aufgerufen, darum zu wissen, um zum einen selbst nicht den Mangel zu erzeugen, der ein Bedürfnis nach sich zieht, welches dann mit Workshops oder Konzepten durch uns befriedigt werden kann. Zum anderen sollten wir den werdenden Eltern immer wieder diese Falle der zum Beispiel optimierten Schwangerschaft sichtbar machen. Um dies etwas anschaulicher zu machen, wage ich einen generationsübergreifenden Blick in die Bereiche Social Media und aktuelle Studien.

 

Heile Welt auf Social Media

 

Bereits die Hebammen der Generation Y sind mit den verschiedensten Social-Media-Angeboten früh in Berührung gekommen. In ihrer Zeit begannen die kleinen YouTube-Videos, kleine Lehr- und Vorführvideos. Und natürlich ist es eine feine Sache, in Kürze verschiedenste Angebote und Möglichkeiten zur Kenntnis nehmen zu können und gleichzeitig noch gut unterhalten zu sein. Auch macht es sicher Freude, selbst kleine Filmchen zu kreieren und ins Netz zu stellen – vielleicht zur Information oder als Service an werdende und gewordene Eltern. Was ich hier zu bedenken geben möchte: Die Filmchen oder Storys zeigen Lebensbilder, aus denen alles herausgeschnitten ist, was langweilig ist und erlebnislos. Es ist die Veröffentlichung von Highlights und kann zu einer Kluft zwischen den unspektakulären Erfahrungen und der »Fake«-Erfahrung im Netz führen. Die Generations-Soziologinnen Miriam und Nicola Engelhardt fragen: »Wie kann ich vor dem Hintergrund eines fast perfekt optimierten Profils das teilen, was in mir vorgeht? Wo ist Platz für meine Ängste, Wünsche und Träume (…) und vor allem die schweren Gefühle? Wie kann ich diese Gefühle ehrlich mit jemanden teilen, bevor sie optimal formuliert und hübsch genug verpackt sind fürs Internet?« Und so braucht es hier Aufmerksamkeit und auch eine digitale Ethik für Hebammen. Von kleinen Videos, diversen Vorführungen bis hin zu Produktwerbung sind Hebammen auf vielen Internet-Plattformen zu finden. Wir sollten uns die Frage stellen: Wozu tragen wir bei? Nährt es die Menschen, die wir erreichen wollen, oder beteiligen wir uns an einer »Fake«-Erfahrung im Netz, zu einem Geburts-Highlights-Denken, überhöhten Erwartungen, auch an die Schwangerschaft, zu Enttäuschungen im Zusammensein mit den Babys, da ja auch hier nicht jeder Moment als Highlight empfunden wird? Permanentes Vergleichen, Unsicherheit und ein Ringen um die Selbstwirksamkeit sind durchaus Themen, die junge Mütter und Väter bewegen. Wissen wir das? Eine digitale Ethik für Hebammen oder auf jeden Fall einen kritischen Diskurs über Plattform-Öffentlichkeit finde ich unumgänglich.

 

Die Studienlage

 

Neue Studien in unserer Arbeit sind wundervoll und wichtig, ohne Wenn und Aber bereichern sie unsere Arbeit, wecken den forschenden Geist und geben all unseren Arbeitsfeldern die Möglichkeit der Vertiefung. Auf der anderen Seite scheint das Feld rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett nun eine Spielwiese von Studien ohne Rahmen geworden zu sein. Mit Sorge verfolge ich Studien, die werdende Mütter hinter dem Schleier der zu Erziehenden zum Verschwinden bringen. Nun reicht es nicht mehr, Folsäure zu nehmen oder auf Nahrungsmittel zu verzichten, nun muss die Schwangerschaft auch stressfrei und glücklich durchlebt werden: »Eine glückliche Schwangerschaft wirkt sich positiv auf die Gesundheit des Neugeborenen aus«, lese ich. Eine andere Studie stellt fest, dass die Entwicklung des kindlichen Gehirns durch Stress und Traumata in der Schwangerschaft negativ beeinflusst wird. Weiter finde ich Empfehlungen für frühestmusikalische Erziehung und Frauen legen sich Spieluhren auf den Bauch. Die Bindungsanalyse mahnt, wie wichtig es ist, »mit Ihrem Baby in Kontakt zu treten und so schon vor der Geburt eine tiefe Beziehung mit ihm aufzunehmen«. Dafür brauche es eine »seelischen Nabelschnur«, die Mutter und Baby verbindet, für die gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Ist dies ein Versuch, werdenden Müttern einen Mangel zu attestieren, der eine bedürfnisorientierte Dienstleistung nach sich zieht? Die Körperhistorikerin Barbara Duden mahnte dies bereits vor über 20 Jahren an und fragte: Ist Schwangerschaft und Geburt heute nichts mehr, was »Frauen können, sondern etwas, wozu sie in einem verwaltenden sozialen Vorgang gebraucht werden?«

 

Vorsorge und Dienstleistung

 

Das beeinflusst die Vorsorgearbeit bereits heute. Wohlfühlseminare, Angebote zum Stressabbau, Akupunktur, Yoga- und Meditationskurse steigen in der Nachfrage. Was weiter geschehen kann: Schwangergehende Paare fordern dann Hebammen mit einem großen Zertifikatsangebot – von Achtsamkeit bis Zeitmanagement. Welche bietet das größte Erlebnis-Sorgenlos-Repertoire? Was kann dadurch geschehen: Vielleicht haben einige Hebammen bereits Erfahrung mit »Hebammen-Casting« gemacht: Ein Paar schreibt 30 Hebammen an und bestellt drei ein. Dieses Phänomen könnte zunehmen und so auch den Wettbewerb unter den Kolleginnen ins Spiel bringen. Dann werden wir vielleicht irgendwann wirklich »gebucht« und ich kann jede junge und werdende Hebamme verstehen, die der Freiberuflichkeit aus diesem Grund fernbleibt.

Doch auch im Kreißsaal kann dies Auswirkungen haben. Die vielen Artikel über Gewalt im Kreißsaal könnten zunehmen, weil Frauen immer mehr in einen bedürfnisorientierten Geburts-Erlebnis-Modus hineinerzählt werden. »Bedürfnisorientiertes Gebären« verhindert somit den klaren Blick auf die Gebärarbeit. Hebammen könnten sich resigniert den »Bedürfnissen« der Kreißenden unterwerfen, PDA und Schmerzmittel gelten dann als »frauenorientierte Gebärbetreuung«. Die Frauen glauben selbst nicht mehr an ihr eigenes Können und fordern ein schmerzarmes Erlebnis. Wenn dies nicht gelingt, lassen sie sich vielleicht in die Idee des persönlichen »Traumas« fallen – die Bereitschaft, sich therapeutische Hilfe zu suchen, steigt. Die eigentliche selbstkritische Frage nach dem eigenen Getäuscht-Werden über die Geburt wird nicht gestellt. Dies könnte durch diverse Trauma-Berichte erzieherisch zurückwirken in unsere Arbeit – irgendwann trauen sich vielleicht Hebammen nicht mehr, der eigenen Expertise zu folgen, sondern bewegen sich im »Geburtsplan« der ahnungslosen oder durchmeditierten werdenden Mutter, die selbst nicht mehr an sich glaubt, jenseits eines Konzepts. Aus dem Slogan »Genießen ohne Grenzen« scheint nun der Wunsch nach einer »desinfizierten« Realität entstanden zu sein. Die Wirklichkeit wird so lange poliert, visualisiert oder anderes, bis sie passt. Diese Suche entspringt offenbar dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Ganzheit, doch auch hier lade ich zum kritischen Blick ein. Der indische Publizist und politische Aktivist Saral Sarkar warnt vor einer »Luxusspiritualität, als dem idealistischen Zuckerguss auf dem materialistischen Kuchen des westlichen Lebensstandards«.

Ein gemeinsamer Lebens- und Generationstanz kann hier nicht entstehen. Was entsteht, sind einsame Junge Wehen und fragmentierte Generationen von Hebammen. Denn aus der Falle der Selbstoptimierung heraus nehmen wir unser Lern- und Arbeitsleben selbst in die Hand und loten alle Möglichkeiten aus für das Projekt »schönes Leben«, ganz nach dem Motto: Jeder ist seines Glückes Schmied. Und so sehen wir dann auch die werdenden und gewordenen Mütter und die Babys: förderungs- und verbesserungsbedürftig. Fatalerweise würden wir junge Eltern dazu einladen, sich ihrem Kind nicht etwa als Mütter und Väter zuzuwenden, sondern als Förderer und Therapeutinnen.

 

Ich plädiere

 

Ich plädiere für eine Forschung, in der Hebammenverbundenheit ins Zentrum gestellt wird, zum Beispiel, ob es einen Unterschied macht, welche freiberufliche Hebamme Frauen auf die Geburt vorbereitet, so würde eine Zusammenarbeit von klinisch und außerklinisch tätigen Hebammen entstehen können. Ich plädiere dafür, dass die Kluft zwischen Haus- und Krankenhausgeburten endlich durch unsere gegenseitige Wertschätzung aufgehoben wird. Ich plädiere für eine Forschung, in der Frauen in ihrer ganz leiblichen und eigenlebendigen Art gut genug sind für ihr kommendes Kind und nicht optimierungs- und förderungsbedürftig. Ich plädiere für die Bedeutsamkeit der echten Nabelschnur und für Momente der Trauer, die ganz lebendig dazugehören dürfen, jenseits von Traumatherapie! Ich plädiere für den Tanz der Hebammen-Generationen.

 

Spannungen ausbalancieren

 

So leben wir alle zusammen, sind eine Gesamtheit, mit unterschiedlichen Geschichten, auch entsprechend unseres Alters. Ältere Hebammen haben mehr Erfahrungen in Beruf und Leben, sind zum Teil kritischer und jüngere Hebammen haben mehr Fragen, eine andere Begeisterung und neue Ideen. Doch etwas Neues entsteht nur durch die Spannung zwischen zwei Polen, vielleicht Alt und Jung. Der Sinn entsteht im ausbalancieren der Spannungen zwischen den Polen, genau an dem Ort, an dem Leben entsteht. Und diese Beziehung, dieser Kontakt zwischen den beiden ist bedeutsam. Es gibt nicht entweder oder, sonders beides muss im Tanz immer neu austariert werden, es ist beides bewegt und trotzdem gibt es einen Rahmen, in dem Beweglichkeit stattfindet, damit das gemeinsame Neue nicht wegfließt, wegfällt oder verloren geht. Wir brauchen alle einen Bezug. Denn so wie es gut ist, dass eine Hebammen-Praxisanleiterin Erfahrung hat, also satt ist, ist eine werdende und junge Hebamme hungrig. Und vielleicht entstehen durch die Kraft der werdenden und jungen Hebammen Hebammen-betreute Kreißsäle oder eine digitale Ethik, doch dies nicht bodenlos, sondern aus der fruchtbaren Arbeit älter Hebammen heraus – es ist ein Tanz.

Es gibt ein chinesisches Schriftzeichen, das sich wie folgt erzählt: Zehn Generationen von Frauen tun und wirken mit ihren eigenen Händen. Durch dieses Tun sind ihre Wurzeln fest beieinander. Wenn diese Kraft der Ahninnen als Luft in unsere Nase fließt und unser Herz schlagen lässt, ist dies unser »Wohnen« . Und so ist es vielleicht keine Frage, an welchem Ort wir arbeiten oder in welcher Art von Beruflichkeit, sondern dass wir die Kraft der zehn Generationen einatmen, um unsere Berufung gemeinsam zu bewohnen. Es ist ein Tanz zwischen De-Generation, also unser immer mal wieder »Aus-der-Art-Schlagen« und Re-Generation, unser gemeinsames »Von-Neuem-Hervorbringen«. So lasst uns wieder ganz Generationsübergreifend übereinander staunen – und damit meine ich nicht den Wow-Effekt, sondern den »Mut zum wachen Herzen«. Lasst uns dieses Staunen wieder einüben, denn dies ist, mit Dorothe Sölle gesprochen, »ein Anfang des Sich-selber-Verlassens, eine andere Freiheit von den eigenen Ängsten. Im Staunen enttrivialisieren wir uns und machen uns auf, auf dem Pfand des Loslassens«. Und was gilt es loszulassen? Konzepte der getrennten Generationen, damit wir gemeinsam etwas Neues hervorbringen, re-generieren, das Herz schlagen lassen und dies zusammen genießen.

Rubrik: Politik & Gesellschaft | DHZ 08/2023

Literatur

Arndt, L. (2021). Was ist eigentlich Hypnobirthing. https://hypnobirthing-geburtsvorbereitung.de/hypnobirthing/#:~:text=%EE%80%80HypnoBirthing%EE%80 %81%20ist%20eine%20blockadenfreie%20Gedanken-K%C3%B6rpergef%C3%BChl-Verbindung%20f%C3%BCr% 20eine%20sanfte%2C,zu%20erkennen%2C%20dass%20 und%20wie%20Gedanken%20unsere%20

Beck-Gernsheim, E., Beck, U. (2020). Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. 10. Aufl. Frankfurt am Main: suhrkamp Verlag.

Bleyl, U. (2020). Chinesische Schriftzeichen. Interview mit Lim, Sunjueng - Diplom Sprachwissenschaftlerin. Potsdam.
»

Ich bin Abo-Plus-Leserin und lese das ePaper kostenfrei.

Ich bin Abonnentin der DHZ und erhalte die ePaper-Ausgabe zu einem vergünstigten Preis.

Upgrade Abo+

Jetzt das Print-Abo in ein Abo+ umwandeln und alle Vorteile der ePaper-Ausgabe und des Online-Archivs nutzen.