Die Geburt beginnt im Verborgenen
Die Latenzphase ist die Zeit des Überganges von der Schwangerschaft zur Geburt eines Kindes. In der Schwangerschaft muss der Körper der Frau zunächst durch die Hormone des Trophoblasten, der Plazentaanlage, dazu »überredet« werden, die Einnistung der befruchteten Eizelle mit einem fremden Genom in die Gebärmutterschleimhaut zu akzeptieren. Danach wird er noch monatelang den fremden Organismus des Feten ernähren, halten und vor äußeren Einflüssen schützen. Dagegen muss er sich zur Geburt so verändern, dass er das herangewachsene Kind mit möglichst geringen Verletzungen für die Mutter zur Welt bringt.
Der Nachwuchs des Menschen ist mit einem ungewöhnlich großen Gehirn ausgestattet, das die Geburt des Kopfes erschwert und die inneren Muskeln und die Beckengelenke der Mutter maximal dehnt und strapaziert. So muss der Körper der Frau alle Muskeln und Bänder des Geburtsweges, die zuvor auf das Halten des Kindes zum Schutz vor einer Frühgeburt eingerichtet waren, auf maximale Dehnbarkeit umstellen. Für den Uterus bedeutet diese Phase konkret das Ausrichten der Zervix in die Führungslinie, das Verkürzen bis Verstreichen der Zervix, das anfängliche Eröffnen des Muttermundes sowie das Koordinieren und Steigern der Wehen (DNQP 2014). Diese körperlichen Übergänge geschehen in der Latenzphase – für die meisten Frauen durch bestimmte Symptome spürbar (siehe Kasten).
Was Hebammen in der Latenzphase beobachten:
- subjektives Gefühl der Frau vom Geburtsbeginn
- emotionelle Einstimmung
- Weichwerden (Muttermund, Körper allgemein, Seele)
- Ausrichten (Portio)
- Schleim- und Blutabgang
- vermehrter Stuhlgang, weicher Stuhl, »innere Reinigung«
- Nestbau und Schutzsuche, letztes Großreinemachen
- Geschwisterkinder unterbringen
- Unruhe
- Vorfreude
- »Leuchten«, Trance
- Zu-sich-Kommen, Bei-sich-Sein
- kommende und gehende, leichte bis hin zu regelmäßige kräftige Kontraktionen
- Schmerzen
- Verzweiflung
Mutter und Kind stellen sich um
Die physiologische Entwicklung in den letzten Wochen, Monaten und Stunden vor der Geburt beinhaltet bei der Frau ein steigendes Östrogenlevel zur Vorbereitung der Gebärmutter auf die Geburt, ein steigendes Oxytocin- und Prostaglandinlevel, das Reifen der entsprechenden Rezeptoren in Uterus, Burstdrüsen und Gehirn sowie vermehrte Endorphin-Rezeptoren im Gehirn. Ebenso finden entsprechende Anpassungsvorgänge beim Kind statt, um die Lunge, die Organe und den Stoffwechsel auf die Geburt und das Leben außerhalb des mütterlichen Körpers vorzubereiten (Buckley 2015). So sinkt die Reizschwelle der Muskelzellen in der Gebärmutter zur Geburt hin und die einzelnen Kontraktionen arbeiten wie in einem Orchester mehr und mehr koordiniert zusammen.
Die konkrete Phase des Überganges stellt die Frau vor die Aufgabe, sich innerlich und äußerlich auf die nahende Geburt ihres Kindes einzurichten. Evolutionär gesehen ist es sinnvoll, dass sie nun einen möglichst sicheren Ort aufsucht – und diesen notfalls auch noch einmal wechseln kann, falls doch eine Gefahr auftaucht, bevor die Geburt unumkehrbar geworden oder sie für Flucht oder Kampf bereits zu eingeschränkt ist. Daher kann in dieser Phase von einer »latenten« Geburt gesprochen werden, die eindeutig und für die Frau klar erlebbar nicht mehr Schwangerschaft ist, die aber dennoch wieder stagnieren kann, wenn die Frau aus irgendeinem Grund eine Pause der Wehen benötigt. Synonyme für das Wort »latent« sind Begriffe wie »nicht sichtbar«, »schlummernd«, »unbemerkt«, »verborgen« oder »versteckt«. Im medizinischen Sinne bedeutet es laut Duden »noch nicht akut geworden«.
Die Frau fühlt also, dass die Geburt im verborgenen Inneren ihres Körpers begonnen hat und dass sie einen sicheren Ort aufsuchen muss, an dem das Kind zur Welt kommen kann. Für unerfahrene Erstgebärende ist dies in den meisten Fällen die ausgewählte Geburtsklinik, für manche Frauen ein Geburtshaus, für andere das vertraute Zuhause. Erfahrene Gebärende versuchen dagegen oft, noch möglichst lange zu Hause zu bleiben, wo sie sich ungestört fühlen, und erst zur aktiven Geburtsphase in die Klinik zu fahren.
Gehört die Latenzphase zur Geburt?
Vor 200 Jahren beschrieb der Geburtshelfer Adam Elias von Siebold bereits eine Geburtsphase mehr als die zuvor lange gängigen vier von Eröffnung, Austreibung, Geburt und Nachgeburtsperiode: »Es sind der Geburtszeiten fünfe; nämlich die erste oder Anfangszeit der Geburt; die zweite oder Wasserblasenzeit, die dritte oder Fortgangszeit, welche auch Kopfzeit genannt wird; die vierte oder Austrittszeit, und die fünfte oder Nachgeburtszeit.« (von Siebold 1819).
Auch heute beziehen Frauen die lange Latenzphase meist in ihre Erzählungen über die Dauer ihrer Geburt mit ein. Für sie beginnt die Geburt mit den ersten Wehen, seien diese auch noch so zart und unregelmäßig (oder mit dem Blasensprung, falls dieser vorangeht). Hebammen halten meist dagegen, dass das ja noch »keine richtigen« Wehen seien und die Geburt noch nicht begonnen habe. Sie meinen damit aber eigentlich, dass sie als Geburtshelferinnen noch nicht wirklich benötigt werden – was noch diskutiert werden muss.
Dieses Missverständnis kann Frauen verunsichern und frustrieren, was sich ungünstig auswirken kann auf das Vertrauen in sich selbst, die Beziehung zur Hebamme und damit auch auf den weiteren Verlauf der Geburt. Hebammen sollten das Erleben und die Einschätzung der Gebärenden anerkennen und bestärken und das weitere Vorgehen danach differenzieren: »Ja, die Schwangerschaft geht nun zu Ende, die Geburt hat begonnen. Dann lassen Sie uns schauen, wie weit Sie sind und was Sie nun von mir brauchen. Vielleicht ist noch genügend Zeit, sich außerhalb des Kreißsaals/in unserem Wehenzimmer/bei Ihnen zu Hause aufzuhalten, bis die Geburt ein wenig vorangeschritten ist?«
Wann beginnt die aktive Eröffnungsphase?
International wird die Latenzphase längst als fester Bestandteil des gesamten Geburtsprozesses verstanden, allerdings wird ihre Dauer noch diskutiert. Die Leitlinien des britischen Instituts für Qualität im Gesundheitswesen (NICE Clinical Guidelines 2014) definieren die Latenzphase als eine Zeitspanne mit schmerzhaften Kontraktionen, die nicht unbedingt regelmäßig sein müssen, einer Verkürzung der Portio und einer Eröffnung bis zu einer Muttermundsweite von vier Zentimetern. Auch der deutsche »Expertinnenstandard zur Förderung der physiologischen Geburt« (DNQP 2014) zählt die Latenzphase als Phase der frühen Eröffnungsperiode zur Geburt. Sie dauert demnach ab Geburtsbeginn (regelmäßige Wehentätigkeit oder Blasensprung) bis zum Verstreichen der Zervix und einer Eröffnung des Muttermundes auf circa vier Zentimeter, bei Mehrgebärenden auch bis sechs Zentimeter.
Jeremy L. Neal und Forschungsteam aus Nashville, USA, sehen die Grenze der Latenzphase zur aktiven Eröffnungsphase am Beginn einer progressiven (sich beschleunigenden) Eröffnung, was etwa einem Muttermundsbefund von vier Zentimetern entspricht (Neal et al. 2015). Sie betonen, dass eine späte Aufnahme von Frauen mit Wehen in den Kreißsaal dazu führen kann, dass die Frauen nicht die von ihnen gewünschte Betreuung bekommen, etwa eine adäquate Schmerzlinderung oder ein Beziehungsaufbau zur Hebamme.
Die WHO empfiehlt aktuell die Grenze der Latenzphase zur aktiven Eröffnungsphase bei fünf Zentimetern zu ziehen (WHO 2018). Die aktuellen Empfehlungen der Fachgesellschaften American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) und Society for Maternal-Fetal Medicine (SMFM) in den USA sehen diese Grenze sogar bei sechs Zentimetern Muttermundsweite (Caughey 2014) (siehe Tabellen 1 und 2).
Tabelle 1: Englische und deutsche Begriffe der Geburtsphase
Tabelle 2: Internationale Definitionen der Latenzphase
Was brauchen die Frauen?
»Die Latenzphase der Geburt wird in der Regel kaum verstanden und ihre Dauer schwankt so stark, dass eine Variationsbreite für den normalen Geburtsfortschritt nur schwer zu definieren ist.« (McNiven et al. 1998). Die Dauer der Geburt ist ein wichtiger Faktor für das Erleben und die Empfindung der Frau als auch für die Einschätzung der GeburtshelferInnen (Groß 2003). Bei manchen Frauen treten die ersten Anzeichen für den Geburtsbeginn schon einige Tage vor dem Beginn der aktiven Eröffnungsphase auf, andere bemerken sie spät oder gar nicht. Werdende Mütter kommen aber zumeist schon in der Latenzphase in die Klinik, aufgrund schmerzhafter Kontraktionen, dem Wunsch nach Rückversicherung oder auf Drängen des Partners oder der Partnerin hin. Der Anlass zur Fahrt in die Klinik ist häufig eine Kombination aus Schmerz, Unsicherheit und Angst (Cheyne 2007). Frauen, die frühzeitig vor der Geburt in die Klinik gehen, haben insgesamt eine stärkere Tendenz, die Verantwortung in die Hände der Betreuenden zu legen (Carlsson 2009).
Die Frauen stehen heute in einem Spannungsfeld zwischen ihren natürlichen Körperprozessen, Empfindungen und Bedürfnissen und einer Geburtshilfe, die nicht immer adäquat darauf antworten kann, da sie eigene Aufgaben hat, Interessen verfolgt und oft nur über begrenzte Ressourcen verfügt. Dieses Spannungsfeld kann für die Gebärende umso größer werden, je unklarer und unreflektierter die Geburtshilfe mit dieser Differenz umgeht (siehe Abbildung 1).
Beide Seiten müssen ihre Interessen vertreten und sollten auf Augenhöhe entscheiden, was geschieht. Die Frau hat jedoch – verbrieft durch die gesetzlichen PatientInnenrechte – die letzte Entscheidungsbefugnis über ihren Körper und ihr Kind.
Abbildung 1: Spannungsfelder zwischen dem Erleben und den Bedürfnissen der Frau und der Haltung und den möglichen Konflikten der GeburtshelferInnen
Der richtige Ort
Ist der Kreißsaal der richtige Ort für Frauen in der Latenzphase? Brauchen sie in dieser Zeit schon die Beleg-, Geburtshaus- oder Hausgeburtshebamme kontinuierlich an ihrer Seite? Und ab wann steht Frauen eigentlich eine Hilfe bei der Geburt zu?
Hebammen raten den Schwangeren bisweilen im Vorfeld, in der Latenzphase so lange zu Hause zu bleiben wie möglich. Sie können sie auch von der Klinik wieder nach Hause schicken, wenn die aktive Eröffnung noch nicht begonnen hat. Die Gründe können mangelnde Betreuungskapazitäten sein, der Wunsch, die Frau vor verfrühten Interventionen zu schützen, oder auch der Gedanke, dass die Frau zu Hause abgelenkt und etwas entspannter sein könnte als im Kreißsaal. Eine späte Aufnahme zur Geburt kann allerdings auch zu ungeplanten außerklinischen Geburten führen (Kobayashi 2018).
»In Deutschland hat jede Frau das Recht, während der Geburt von Beginn der Wehen an von einer Hebamme begleitet zu werden«, heißt es im Expertinnenstandard Förderung der physiologischen Geburt (DNQP 2014, S. 71). Aber auch: »Mehr als die Hälfte aller Frauen werden vor Beginn der aktiven Geburtsphase stationär aufgenommen, ohne dass es einen definierten ruhigen Ort, Zeit und Betreuungskonzepte für diese Frauen gibt.« (DNQP 2014, S. 71f.).
Das Hebammengesetz besagt dazu Folgendes: »Geburtshilfe im Sinne des Absatzes 1 umfasst Überwachung des Geburtsvorgangs von Beginn der Wehen an, Hilfe bei der Geburt und Überwachung des Wochenbettverlaufs.« (Hebammengesetz 2016, II. Abschnitt, Vorbehaltene Tätigkeiten: § 4). Das bedeutet auch, dass freiberufliche Hebammen, die Frauen bei Geburtsbeginn »anbetreuen«, ab dem Zeitpunkt, da sie die Frau als unter der Geburt diagnostizieren, eine Haftpflichtversicherung für die geburtshilfliche Betreuung brauchen.
Begleiten oder wegschicken?
Erfahrene Hebammen wissen, dass es störend sein kann, wenn die Frau, der Partner oder die Betreuenden schon bei geringer Muttermundsöffnung zu sehr auf ein Voranschreiten der Geburt warten und sogar auf Interventionen drängen. Hat die Frau bereits starke Wehenschmerzen, zweifelt sie vielleicht daran, den langen Rest der Geburt aus eigener Kraft schaffen zu können. Auch der Partner oder die Partnerin befürchten vielleicht, dass etwas nicht stimmt oder das Paar schlecht betreut wird, wenn sie die Normalität eines langsamen Geburtsbeginnes nicht kennen und niemand »etwas macht«. Daher ist es wichtig, die Latenzphase in der Geburtsvorbereitung zu erklären und Selbsthilfemöglichkeiten zu vermitteln.
Der nur langsam messbare Fortschritt in der Latenzphase kann tatsächlich bereits mit sehr schmerzhaften Kontraktionen einhergehen. Dies kann Frauen belasten und ihr Vertrauen in die Geburt untergraben (Austin 1999). Daher ist es wichtig, gemeinsam mit der Frau zu entscheiden, wann sie welche Versorgung und Begleitung benötigt. Daneben hat die Hebamme natürlich – entsprechend ihrer Fachkenntnisse beziehungsweise den Standards ihres Arbeitgebers – Sorge zu tragen, dass es Mutter und Kind gut geht. Ein Beispiel für ein Konzept zur Betreuung in der Latenzphase zeigt Abbildung 2 (siehe Seite 58).
Abbildung 2: Konzept zur Betreuung in der Latenzphase
Vertrauen in die weitere Geburt fördern
Das Gefühl, alleine gelassen zu werden, Leiden und Angst können bei Gebärenden die Ausschüttung von Katecholaminen bewirken, die das Oxytocin hemmen (Simkin 2011). Dadurch wird der Geburtsfortschritt verlangsamt (Alehagen 2005). Mütterlicher Stress kann also die Latenzphase verlängern, wirkt sich aber auch negativ auf die weitere Geburt aus und kann zu erhöhten Raten an vaginal-operativen Geburten führen. Eine Latenzphase mit größeren Schmerzen geht mit einer geringeren Rate an Spontangeburten einher (Wuitchik 1989; Hanada 2015).
Dem könnten Hebammen entgegenwirken, wenn sie ausreichend Kapazitäten für die Begleitung haben, indem sie der Frau Zuversicht und Hilfe zur Selbsthilfe geben, ein Wannenbad bereiten, ihr helfen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und den eigenen Impulsen nachzugeben – eben klassische Hebammenarbeit tun. Wenn es nötig ist, können sie auch ein adäquates Schmerzmittel anbieten.
Interventionen in der Latenzphase
Die meisten internationalen Empfehlungen raten dazu, dass Frauen die Latenzphase möglichst zu Hause verbringen sollten. In Deutschland werden mehr als die Hälfte aller Frauen bereits in der Latenzphase stationär aufgenommen, ohne dass es dort für sie einen ruhigen Ort, Zeit und Betreuungskonzepte gibt. Für Frauen, die zu früh im Kreißsaal betreut werden, besteht allerdings ein erhöhtes Risiko, eine protrahierte EP diagnostiziert zu bekommen und Wehenmittel zu erhalten (DNQP 2014). Dies gilt insbesondere für Erstgebärende. Es könnte daher notwendig sein, in der Latenzphase für Erstgebärende ein anderes Vorgehen zu empfehlen als für Mehrgebärende (Lundgren et al. 2013).
Ist die Frau schon viele Stunden im Kreißsaal und eröffnet die ersten Zentimeter sehr langsam und/oder schmerzhaft, besteht die Gefahr, dass ÄrztInnen oder Hebammen die Geduld verlieren, die Situation falsch einschätzen oder sich aus forensischen Gründen gedrängt fühlen, die Wehen künstlich zu stimulieren – sei es mit ätherischen Ölen, Akupunktur oder Oxytocininfusion, obwohl es objektiv keine Anzeichen für eine Pathologie gibt. Hoher Arbeitsdruck, unklare oder fehlende Definitionen der Geburtsphasen oder unklare Standards der Behandlung erhöhen das Risiko für überflüssige bis schädliche Interventionen.
»In der Latenzphase müssen Wehentätigkeit und zervikale Veränderung nicht zwangsweise kontinuierlich voranschreiten«, betont der ExpertInnenstandard (DNQP 2014, S. 28). In ihren Leitlinien »Clinical Practice Guideline" stellt auch die Society of Obstetricians and Gynaecologists of Canada (SOGC) heraus, dass in der Latenzphase die Diagnose Cervixdystokie nicht gestellt werden sollte (Liston et al. 2002, aus: DNQP 2014). Die Autorinnen der ACOG-Guideline zur Vermeidung des ersten Kaiserschnittes konstatieren, dass eine lange Latenzphase von 20 Stunden keine Sectioindikation ist und bei einer Geburtseinleitung in der Latenzphase zurückhaltend mit Interventionen umgegangen werden soll (Caughey et al. 2014). Die WHO bestätigt, dass in der Latenzphase kein Handlungsbedarf für eine Beschleunigung der Geburt besteht, beruhend auf einem Review von Edgardo Abalos und KollegInnen aus Rosaria, Argentinien, aus dem Jahr 2018 mit 208.000 Frauen. Bei Wohlbefinden von Mutter und Kind sollten daher keine medizinischen Interventionen wie Oxytocingabe oder Sectio vorgenommen werden.
Bewältigungsstrategien
Früher wurden Frauen in der Latenzphase in einigen Kliniken dazu aufgefordert, Tupfer zu drehen oder Kinderhemdchen zusammenzulegen, mit dem Hintergedanken, ihre Aufmerksamkeit weg von den Wehen auf eine einfache Tätigkeit zu lenken. Auch ein Spaziergang kann diese Funktion haben, sollte aber nicht so lange dauern, dass die Frau dadurch zusätzlich ermüdet. Insofern ist auch längeres Treppensteigen fragwürdig, auch wenn es eine starke Mobilisierung des Beckengürtels und einen verstärkten Druck nach unten bewirkt. Hierfür können wechselnde Beinstellungen auf einem Hocker sinnvoller sein. Auch schöne Musik, Massagen des Partners oder der Partnerin und ruhende, aufrechte oder wechselnde Körperhaltungen und Bewegung können die Zeit erträglicher machen. Wenn die Frau gerne tanzt, kann sie versuchen, sich zu ihrer Lieblingsmusik zu bewegen, solange es ihr angenehm ist.
Die Frau sollte sich selbst nach Bedarf mit leichten Snacks und Getränken versorgen können. Sie sollte selbst entscheiden, ob ihr nach einem Bad oder einer Dusche ist. Um sich die Zeit zu vertreiben, kann sie beispielsweise Brettspiele mit Anwesenden spielen, malen oder tun, was immer sie ablenkt und ihr Spaß macht.
Wenn die Hebamme gebraucht wird
Ist aber die Angst groß oder sind die Schmerzen schon so stark, dass die Frau mit diesen Bewältigungsstrategien nicht mehr zurechtkommt, braucht sie Hebammenhilfe. Die Hebamme ist die zuständige Betreuungsperson, die der Frau zur Seite steht. Sie hilft ihr bei der Wehenveratmung und Bewegung, mit einer Badewanne, leichten oder stärkeren Methoden der Schmerzlinderung bis hin zur Periduralanästhesie. Geburtshilfliche Einrichtungen sind verpflichtet, Hebammen den Rahmen zu geben, ihre Aufgaben adäquat auszuführen und Frauen und Paaren die gesetzlich garantierte Betreuung anzubieten. Das bedeutet, es braucht angemessene Personalschlüssel und ausreichend Räumlichkeiten für Frauen und Paare, die Betreuung ab Geburtsbeginn benötigen (DNQP 2014, S. 20).
Sind keine speziellen Räume für diese besondere und wichtige Phase der Geburt vorhanden, könnte auch ein Türschild mit der Aufschrift »Latenzphase – Bitte nicht stören« allen Beteiligten signalisieren: Hier bereitet sich eine Frau oder ein Paar auf die Geburt vor. Sie sollten keiner Störung und keinen überflüssigen Interventionen ausgesetzt sein, aber jederzeit Hilfe einfordern können, wenn sie möchten. Es wird kein Partogramm geschrieben und es werden keine routinemäßigen vaginalen Untersuchungen durchgeführt, – außer, wenn die Frau wissen möchte, wie es weitergegangen ist. Es gibt kein zeitliches Limit für die Frau und ihren Latenzprozess, und es gibt in diesem Raum keine Diagnose »Geburtsstillstand«. Alle respektieren diesen Raum als den sicheren Ort, den die Frau braucht, um sich für die Geburt ihres Kindes zu öffnen.
Literatur
Abalos E, Oladapo OT, Chamillard M, Díaz V, Pasquale J, Bonet M, Souza JP, Gülmezoglu AM: Duration of spontaneous labour in ‘low-risk’ women with ‘normal’ perinatal outcomes: A systematic review. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 2018. 223:123–132. doi: 10.1016/j.ejogrb.2018.02.026
Alehagen S, Wijma B, Lundberg U, Wijma K: Fear, pain and stress hormones during childbirth. Journal of Psychosomatic Obstetrics and Gynaecology 2005. 26(3) 153–65
American College of Obstetricians and Gynecologists (College), Society for Maternal-Fetal Medicine, Caughey AB, Cahill AG, Guise JM, Rouse DJ: Safe prevention of the primary cesarean delivery. American journal of obstetrics and gynecology 2014. 210(3) 179-193
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